Chiclana. An Zeitpunkt und Ort des Kennenlernens vermochten sich der ehemalige Bayern-Trainer und die Doppel-Olympiasiegerin im leichtathletischen Fünfkampf nicht mehr zu erinnern. Wahrscheinlich wars vor 16, 17 Jahren, dass Reinhard Saftig und Ingrid Mickler-Becker gemeinsam an einer Podiumsdiskussion in Koblenz teilnahmen. Arminias Sport-Geschäftsführer und die heute politisch Engagierte feierten ein überraschendes Wiedersehen im Hotel Barrosa Park.
Mickler-Becker gehört zur ausgesprochen seltenen Spezies ostwestfälischer Goldmedaillengewinner bei Olympischen Spielen. Mit "einmal Geseke, immer Geseke" beschreibt die jetzt 65-Jährige ihre Verbundenheit zum Heimat-Städtchen, das "immer viel Wert darauf gelegt hat, dass wir zu Ostwestfalen und nicht zum Ruhrpott gehören".
Mittlerweile mit Ehemann Friedrich längst im rheinhessischen Zornheim lebend und beruflich zwischen Deutschland, den USA und der Schweiz pendelnd, hat die vierfache Teilnehmerin an Sommerspielen nie die Verbundenheit zu dem Ort verloren, in dessen Leichtathletikgemeinschaft (LG) sie vom "Küken von Rom" zur Gold-Ingrid von Mexico (Fünfkampf) und München (4x100-m-Staffel) heranreifte.
International fand ihr Mädchenname Becker erstmals 1960 in Rom olympische Erwähnung, als das "Ingridsche", wie sie ihre älteren Sportkameraden Martin Lauer und Manfred Germar gerne auch heute noch nennen, Platz neun im Hochsprung belegte.
Auch fast 48 Jahre später sieht Mickler-Becker, damals die jüngste Starterin im deutschen Olympiateam, die Spiele von Rom als eine Art Beginn einer neuen olympischen Zeitrechnung. Deutschland ist, mit 15 Jahren Abstand zum 2. Weltkrieg, im Sport wieder ein willkommener Konkurrent, erhält durch unvergessliche Triumphe wie den Armin Harys über 100 Meter, neue Anerkennung.
Roms "Fülle an beeindruckender Historie" lässt auch die erst 18-Jährige aus der ostwestfälischen Kleinstadt ahnen, dass es Zusammenhänge gibt zwischen gesellschaftlichem und sportlichem Glanz und Gloria.
Mit Ehrgeiz ans "Azteken-Gold"
Erst acht Jahre später aber, 1968 in Mexiko, geht Ingrid Becker "erstmals mit dem Ehrgeiz an den Start, mehr erreichen zu wollen, als nur dabei zu sein". Die Gesekerin weiß, dass "den Weitsprung nur gewinnen kann, wer besser ist als ich". Doch das mexikanische Gold wird von einem alten Azteken-Herrscher streng bewacht. "Mich hat Montezumas Rache fürchterlich erwischt", erinnert sich die Sportlerin.
Sechs Tage lang verbringt die Weitsprung-Favoritin fast nur an einem stillen Örtchen, beim Wettkampf reicht es nur zu Platz fünf. Beckers großer Tag sollte noch kommen – und steht bis heute als nachahmenswertes Exempel für sportliche Fairness und olympischen Geist, wird deshalb gerne auch von Bundes-Innenminister Wolfgang Schäuble bei Vorträgen erwähnt.
Der Ablauf des Gold-Tages von Mexiko-Stadt: Ingrid Becker geht im Fünfkampf nach den 80 Meter Hürden in Führung, wechselt zum Kugelstoßen – und wird kreidebleich. Diesmal, weil sie die Schuhe vergessen hat. "Ich hätte in Holzlatschen oder barfuß stoßen müssen", bekennt sie.
Doch die Konkurrenz hilft aus mit drei Paar Schuhen in ungefähr der richtigen Größe. Das Paar beim zweiten Stoß gehört der Österreicherin Liesel Prokop, die somit der schärfsten Gold-Gegnerin zum olympischen Triumph verhilft. "Das ist es, was ich unter Sport verstehe, was alle vom Sport lernen sollten", meint Ingrid Mickler-Becker, die ihre sportlichen Erfahrungen auch in die bis ins rheinland-pfälzische Sozialministerium führende politische Laufbahn eingebracht hat.
Sportlerin des Jahres 1971 und Trägerin der Goldene Sportpyramide der Deutschen Sporthilfe 2005 sind zwei ihrer vielen Ehrenauszeichnungen. Die Pyramide war verbunden mit einer 25.000-Euro-Prämie, die sie nutzte, um einen Förderverein der LG Geseke zu gründen. Der Verbundenheit zur ostwestfälischen Heimat wegen.