Autobiografie

Ex-Armine Ewald Lienen im Interview: „Dieses Buch hat mich verändert"

"Ich war schon immer ein Rebell" ist im Piper-Verlag erschienen

Jetzt auch Autor: Ewald Lienen bei der Vorstellung seiner Autobiografie „Ich war schon immer ein Rebell" im Mai in einer Hamburger Buchhandlung. | © Witters

Philipp Kreutzer
14.06.2019 | 14.06.2019, 11:50

Herr Lienen, der Titel Ihres Buches lautet „Ich war schon immer ein Rebell". Als solcher werden Sie von manchen Menschen tatsächlich noch immer wahrgenommen und bezeichnet. Aber haben Sie selbst sich jemals als Rebell empfunden?

EWALD LIENEN:Nein, überhaupt nicht. Das ist einfach ein etwas provokanter Titel, den der Verlag und ich gewählt haben, um auf das Buch aufmerksam zu machen. Manche Leute denken ja beim Wort Rebell an Soldaten mit Maschinenpistolen auf Jeeps (lacht). Mir geht es aber nur darum, dass man seine Meinung auch mal gegen den Strom vertritt. Wenn man darunter Rebellieren versteht, ja gut, dann ist Rebellieren sogar Bürgerpflicht.

Es geht Ihnen also nicht um Rebellion, sondern um Haltung.

LIENEN: Genau. Ich bin schon immer von anderen Leuten als Rebell eingeschätzt worden, dabei habe ich in meinem politischen Engagement nur mein grundgesetzlich verbrieftes Recht zur freien Meinungsäußerung genutzt. Und bin trotzdem attackiert worden. Wenn ich an meine erste Berufsverbot-Initiative gegen den Radikalenerlass denke, durch den ab Anfang der 70er Jahre allen möglichen Leuten mit irgendwie linkem Hintergrund der Beamtenstatus verweigert wurde: Das fand ich ungeheuerlich.

Dagegen haben Sie sich gewehrt.

LIENEN: Dagegen habe ich mich bis zum Geht-nicht-mehr gewehrt. Und dafür wurde ich vor allem aus konservativen Kreisen angemacht. Unterirdisch, was für eine Unverschämtheit. Und was für ein Demokratieverständnis. Dass die Befürworter des Radikalenerlasses, die vorgaben, das Grundgesetz zu schützen, mir das Recht absprachen, meine Meinung zu äußern, das war ungeheuerlich und abstrus. Von solchen Leuten, die meinten, ich solle lieber nur Fußball spielen als mich auch noch politisch zu engagieren, wurde ich natürlich als Rebell wahrgenommen. Als einer, der etwas tut, was ihm ihrer Ansicht nach nicht zusteht.

Was sagen Sie denen, die meinen, man dürfe Sport nicht mit Politik vermischen?

LIENEN: Wer so etwas sagt, ist für mich komplett ahnungslos. Sport hat immer mit Politik zu tun gehabt und wird immer mit Politik zu tun haben. Wenn wir nur daran zurückdenken, wie viele Sportereignisse überhaupt nur politisch motiviert zustande gekommen sind: Da können wir bei den Nazis und Olympia 1936 anfangen. Oder die Fußball-WM 1978 in Argentinien, als eine brutale Militärdiktatur eine US-amerikanische PR-Agentur beauftragte, sie mit Hilfe dieses Turniers weltweit positiv darzustellen. Und unsere Spieler fuhren dorthin, und Berti Vogts sagte: ‚Ich habe hier keine politischen Gefangenen gesehen.’ Enttäuschter bin ich von deutschen Nationalspielern nie gewesen.

Haben Sie sich mit genau dieser Haltung um Ihre Teilnahme an der WM 1978 gebracht? Sie gehörten zu diesem Zeitpunkt immerhin der B-Nationalmannschaft an.

LIENEN: Ich weiß nicht, ob ich auch ohne meine Haltung überhaupt eine realistische Chance gehabt hätte, mitzufahren. Da war eine Riesenkonkurrenz um mich herum von Leuten wie Rummenigge, Klaus Fischer, Dieter Müller. Es wäre sowieso sehr schwer gewesen, in diese Mannschaft zu kommen. Ich habe mir die Chance genommen, es darauf ankommen zu lassen. Ich bin stolz darauf, dass ich Haltung bewiesen und gesagt habe, ich will mit dem DFB nichts zu tun haben. Aber vielleicht war es trotzdem ein Fehler.

Inwiefern?

LIENEN: Man kann manchmal pragmatisch sein und trotzdem Haltung bewahren. Das war vielleicht ein Fehler, wie ihn viele Idealisten begehen, vor allem in jungen Jahren. Als Nationalspieler vor Ort hätte ich doch vielleicht noch viel mehr bewirken können. Stellen Sie sich vor, ich hätte mich in Argentinien hingestellt und gesagt: Was hier passiert, ist eine absolute Unverschämtheit. Aber diese Fantasie habe ich damals nicht gehabt. Und okay, wahrscheinlich wäre ich auch schnell entsorgt worden. Spätestens, als Oberst Rudel kam (der DFB empfing während der WM 1978 in Argentinien im Mannschaftsquartier in Ascochinga, zu deutsch: toter Hund, Oberst a. D. Hans-Ulrich Rudel, den höchstdekorierten deutschen Soldat des Zweiten Weltkriegs, d. Red.).

Im Buch wird deutlich, wie sehr Sie sich während Ihrer Laufbahn als Spieler am Profifußball abgearbeitet haben. Letztlich sind Sie aber bis heute in diesem Betrieb geblieben. Wie gehen sie damit um, wenn Sie beispielsweise lesen, unter welch katastrophalen Bedingungen Arbeiter in Katar das nächste globale Fußballfest, die WM 2022, vorbereiten? Oder anders: Freuen Sie sich uneingeschränkt mit Jürgen Klopp über den Gewinn der Champions League mit dem FC Liverpool, wenn Sie wissen, dass ein US-Konsortium seit Klopps Dienstbeginn an der Anfield Road rund 450 Millionen Euro in Transfers investiert hat?

LIENEN: Mir geht es gar nicht so sehr um den Profifußball. Klar kann man darüber diskutieren. Aber wir überhöhen den Fußball seit vielen Jahren. Die Dinge, die wir dort sehen, sind nur ein Spiegelbild, ein Symptom der Gesellschaft. Durch das, was im Fußball geschieht, geht die Welt doch nicht unter. Wenn der Alisson Becker, der Torwart von Liverpool, nur noch zehn statt 65 Millionen kostet, wenn wir Gehaltsobergrenzen einführen, halten wir dadurch weder den Klimawandel noch die Ungerechtigkeiten dieser Welt auf. Nein, mein Thema ist, dass der Sport viel zur Gesundheit und zur Persönlichkeits- und Intelligenzentwicklung beitragen kann. Aber Intelligenz allein reicht nicht, es müssen Werte her. In Kindergärten, Schulen und Vereinen kann das Sporttreiben in vielfältiger Weise dazu beitragen, Kindern und Jugendlichen auch Werte wie Fairness, Toleranz, Respekt und Solidarität zu vermitteln. Dann verändert sich unsere Gesellschaft aus sich selbst heraus. Und ich versuche, genau dafür meine Popularität einzusetzen.

Vor dem Hintergrund dessen, was Sie eben gesagt haben: Sind Sie in Ihrer jetzigen Position als Technischer Direktor beim FC St. Pauli so gut aufgehoben wie noch in keiner anderen in Ihrer Laufbahn?

LIENEN: Ja, das kann man so sagen. Ich mache jetzt das beruflich, was ich als Spieler nebenbei gemacht habe, und wofür ich als Trainer zu wenig Zeit hatte. Ich repräsentiere den Klub in seinen Werten und in seinen ökologischen, sozialen und gesellschaftspolitischen Projekten, bei Podiumsdiskussionen und Kongressen, ich halte Vorträge. Das kann ich aus dieser Position heraus und ohne etwas mit dem operativen Geschäft zu tun zu haben, ohne einen aufstiegstauglichen Kader zusammenstellen zu müssen, besser tun als vorher. Und das ist für mich inzwischen auch befriedigender.

Auch Ihre Autobiografie ist ein Produkt dieser neuen Rolle. Warum war Ihnen dieses Buch ein Bedürfnis?

LIENEN: Ich habe immer davon geträumt, das zu tun. Am Ende meiner Karriere als Spieler habe ich schon gedacht, das müsste ich mal alles aufschreiben. Allein das Foul (1981 erlitt Lienen eine schwere Verletzung, als Werder Bremens Norbert Siegmann ihm mit den Stollen den Oberschenkel aufschlitzte und eine lange, tiefe Risswunde zufügte, d. Red.) und seine sportjuristischen Folgen, überhaupt diese Brutalität im damaligen Fußball. Jetzt, in meiner neuen Rolle bei St. Pauli, haben meine Frau und ich gesagt, wir müssen uns endlich die Zeit nehmen. Um auch weiterzugeben, wie ich Dinge erlebt und gesehen habe, nach welchen Werten ich versuche zu leben. Genauso, um Menschen wie meinem Jugendtrainer Manfred Schomburg Dank zu sagen.

Wie leicht ist Ihnen das Schreiben gefallen?

LIENEN: Ich habe immer viel und gern geschrieben. Das Problem war der Zeitdruck. Wir haben viel Zeit verloren durch die Suche nach jemandem, der das Buch schreiben sollte, weil der Verlag mir das erst nicht zugetraut hat. Aber das wollte ich nicht. Es ist doch albern, einen Ghostwriter meine Biografie schreiben zu lassen. Nachdem das geklärt war, fehlte Zeit. Ich habe teilweise rund um die Uhr gearbeitet. Das Schreiben selbst hat mir eine Riesenfreude gemacht, und es war für meine Frau, die mir sehr geholfen hat, und für mich eine tolle Reise.

Vermutlich eine emotionale Reise, oder?

LIENEN: Sehr emotional. Ich muss sagen, das Buch zu schreiben, hat mich verändert. Ich habe vieles noch mal durchlebt und Gefühle zugelassen, die ich jahrelang nicht zugelassen habe. Weil sie bedrohlich waren. Das ist ja gerade bei uns Männern so. Zum Beispiel der Tod meiner Mutter: Das ist ja unvorstellbar, dass deine Mutter stirbt, und dann hängst du da alleine als Kind, und kein Mensch spricht mit dir darüber. Das habe ich jetzt noch mal durchleben und Gefühle zulassen können, das war befreiend. Und so bin ich anders aus diesem Buch herausgekommen.

Sie sprechen Ihre Kindheit an. Was und wo ist für Sie Heimat?

LIENEN:Wir haben wegen des Fußballs in vielen Städten gelebt, und ich bin – was für einen Ostwestfalen ja angeblich nicht üblich sein soll – überall in der Lage gewesen, mich wohlzufühlen. Heute sind wir in Mönchengladbach heimisch. Unsere Tochter lebt auch dort, unser Sohn in Moers bei Duisburg. Aber Heimat ist für mich natürlich auch da, wo ich meine Wurzeln habe, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Also Schloß Holte und Ostwestfalen-Lippe. Das hat sich durch das Buch verfestigt. Deshalb freue ich mich sehr darauf, zu den Lesungen in Brackwede und in Oerlinghausen zu kommen, und Leute wiederzutreffen, die einen Teil meines Lebensweges mitgegangen sind.

Information
Ewald Lienen, geboren am 28. November 1953 in Schloß Holte-Stukenbrock, begann beim VfB Schloß Holte mit dem Fußballspielen. Er stürmte von 1974 bis 1992 in der 1. und 2. Bundesliga für Arminia Bielefeld, Borussia Mönchengladbach und MSV Duisburg. Als Linksaußen galt der Profi mit der langen Mähne manchen auch in politischer Hinsicht: Lienen engagierte sich über Jahre in der Friedensbewegung. Später war er Trainer beim MSV Duisburg, Hansa Rostock, 1. FC Köln, Borussia Mönchengladbach, Hannover 96, 1860 München, Arminia Bielefeld und FC St. Pauli sowie bei CD Teneriffa, Panionios Athen, Olympiakos Piräus, AEK Athen und Otelul Galati (Rumänien). Seit 2017 ist er Technischer Direktor beim FC St. Pauli und Experte beim Pay-TV-Sender Sky. Lienen ist seit 1979 mit Rosa verheiratet. Sie haben zwei erwachsene Kinder, Joscha und Sara.

Der Autor liest am Freitag, 21. Juni, ab 20 Uhr in der Aula des Gymnasiums in Bielefeld-Brackwede. Karten gibt es bei der Buchhandlung Klack in Brackwede. Sky-Reporter Michael Born führt durch den Abend. Eine weitere Lesung folgt am Donnerstag, 10. Oktober, ab 19.30 Uhr in der Mensa der Heinz-Sielmann-Schule Oerlinghausen. Karten soll es ab Ende Juli bei der Buchhandlung Blume in Oerlinghausen geben. Lienens Gesprächspartner wird der frühere FAZ-Fußballchef Roland Zorn (73) sein. Für beide ist es ein Heimspiel: Lienen lebte Anfang der 
80er Jahre in Oerlinghausen, Zorn verbrachte dort einen Teil seiner Kindheit.

Ewald Lienen: „Ich war schon immer ein Rebell". Erschienen 2019 im Piper-Verlag. 432 Seiten, mit 27 Fotos, 22 Euro (Hardcover).