Der Andrang ist dann doch überschaubar. 500 Menschen versammeln sich am Eröffnungstag vor dem „Minto“, dem neuen Einkaufszentrum im Herzen der Stadt. Hans Wilhelm Reiners hat mehr Kunden erwartet, bevor er das rote Band am Eingang der Shopping Mall feierlich durchtrennt, aber er lässt sich seine Laune nicht verderben. So verläuft eben alles in geordneten Bahnen, sagt Mönchengladbachs Oberbürgermeister, während sich die ersten neugierigen Besucher vorsichtig an den modernen Konsumtempel herantasten.
Minto – das ist Gladbacher Mundart und heißt etwa so viel wie „meins“. Eine Jury hatte den Namen aus 2.000 Vorschlägen ausgewählt; er sei „ein schöner lokaler Bezug“ für das neue Center.
Wenige Tage vor der Einweihung speist ein älterer Mann im Borussia-Park, dem Stadion des heimischen Fußballclubs, zu Mittag. Das Minto sei nicht so seins, grummelt er und schiebt die Erklärung direkt hinterher: „Da bleiben einige auf der Strecke.“ Er sieht Gefahren für die eingesessenen Einzelhändler im Schatten des Einkaufszentrums, da kann Oberbürgermeister Reiners noch so oft herausstellen, das Unternehmensansiedlungen „wichtig für eine Stadt“ seien. „In zwei Jahren“, sagt der Rentner, „wird es drum herum ziemlich traurig aussehen.“
Rhe'er und Gladbacher
Die Auseinandersetzungen über die wirtschaftlichen Umwälzungen in der Innenstadt stehen sinnbildlich für eine gewisse Zerrissenheit Mönchengladbachs, der mit rund 262.000 Einwohnern größten Stadt am linken Niederrhein. Identitätsstiftend ist allein die Borussia, schon eher Mythos als nur Traditionsverein.Bielefeld
- 328.864 Einwohner
- 258,82 Quadratkilometer
- Zehn Stadtbezirke
- Etwa 120 Turn- und Sporthallen, mehr als 150 Sportvereine
- Hat eine Radrennbahn.
- Knapp 30.000 Studenten
- Verfügt über eines der größten zusammenhängenden Gebäude Europas: das 154.000 Quadratmeter große Haupthaus der Universität.
- Der DSC hat mehr als 8.500 Mitglieder und ist nach eigenen Angaben größter Verein Ostwestfalens.
- Wahrzeichen: Sparrenburgturm (37 Meter hoch), Oetkerhalle, Neustädter Marienkirche.
Gladbach
- 170,45 Quadratkilometer
- Vier Stadtbezirke
- Etwa 65 Turn- und Sporthallen, mehr als 100 Sportvereine
- Hat eine Trabrennbahn.
- Knapp 7.800 Studenten
- Verfügt seit einer Eingemeindung im Abstand von nur vier Kilometern über zwei Hauptbahnhöfe. Der kleinere heißt wie der Stadtteil: Rheydt Hauptbahnhof.
- Mit 65.000 Mitgliedern ist die Borussia einer der mitgliederstärksten Sportvereine bundesweit.
- Wahrzeichen: Wasserturm (51 Meter hoch), Schloss Rheydt, Gladbacher Münster.
In den Siebzigerjahren ist Franz Josef Wirtz mit der legendären Fohlen-Elf zu allen internationalen Auswärtsbegegnungen gereist. Mailand, Madrid, Manchester. Wirtz ist Stadtführer und ein „Rhe'er Jung“, darauf legt der 68-Jährige wert, er stammt also aus Rheydt. Im Zuge der Gebietsreform, die sich zugetragen hat, als Wirtz beinahe jede Mark in die Europapokalfahrten seiner Borussia steckte, wurde der Stadtteil mit Gladbach und der Gemeinde Wickrath zusammengelegt – unter einigem Protest, was sich bis heute im Stadtbild zeigt. Gladbach und Rheydt haben zwei Fußgängerzonen, sie leisten sich jeweils einen Hauptbahnhof. Sie haben sogar unterschiedliche Vorwahlen.
Der Bahnhof in Rheydt hat seine Blütezeit längst hinter sich. Stadtführer Wirtz hält ihn für einen „Schandfleck“. In der Tat hat Rheydt schönere Ecken zu bieten, etwa den Marktplatz mit seinen Granitplatten und der historischen, fein restaurierten evangelischen Hauptkirche.
Politisches Zeichen
Wenige Meter weiter an der Odenkirchener Straße steht das Geburtshaus desjenigen, der nicht nur für 2.000 zerstörte Synagogen Mitverantwortung trägt, sondern auch für zig Millionen Tote: Joseph Goebbels. Der Künstler Gregor Schneider ist in Sichtweite des unscheinbaren Gebäudes aufgewachsen. 2013 hat er das Haus, den „projizierten Täterort“, gekauft, um es „abzutragen“. Weil sich kein deutsches Museum fand, schaffte Schneider den Bauschutt aus dem Inneren des Gebäudes vor die Nationale Kunstgalerie in Warschau. Er sieht seine Aktion auch als politische Stellungnahme.Zeichen wie jene des Künstlers Schneider sind in Mönchengladbach wichtiger denn je. Im Stadtrat sitzen NPD und Pro NRW; ein, zwei Mal im Jahr marschieren Neonazis in der Altstadt auf. Als im Februar vorigen Jahres der radikale Salafistenprediger Pierre Vogel in der City auftrat, mischten sich 150 Neonazis unter die Gegendemonstranten – der Auftakt der rechtsextremen Randaleveranstaltungen der „Hooligans gegen Salafisten“.
Gerade weil Goebbels' Haus über Jahrzehnte kaum wahrgenommen wurde, ist die Odenkirchener Straße eine feste Anlaufstelle auf Wirtz' Touren. „Gehört eben zur Stadt“, sagt er. Wer Goebbels jedoch für den bekanntesten Abkömmling Mönchengladbachs hält, vergisst andere einflussreiche Persönlichkeiten: die Kunsthändlerin Johanna, bekannt als „Mutter“ Ey, den Ingenieur Hugo Junkers, den Tierfilmer Heinz Sielmann, den Kicker Günter Netzer oder den Philosophen Hans Jonas.