Düsseldorf (dpa). Ein Ehemann hält seine sterbende Frau in den Armen, Menschen kämpfen um ihr Leben. Kurz vor Ende der Beweisaufnahme wird der Schrecken von Solingen im Gerichtssaal noch einmal präsent. Das Oberlandesgericht spielt einen Notruf ab, der unmittelbar nach dem Terroranschlag auf dem Solinger Stadtfest vor gut einem Jahr aufgezeichnet wurde. Zu hören sind Schreie, Panik, eine Sanitäterin berichtet von sechs Menschen mitVerletzungen am Hals. „Hilfe, die verbluten!“, ruft jemand aus dem Hintergrund.
Auf der Anklagebank wirkt Issa al H. unbeteiligt. Das ist nicht immer so. Er ist oft impulsiv, äußert sich – zur Verzweiflung seiner Verteidiger – spontan, redet bei den Plädoyers mehrfach dazwischen und muss ermahnt werden.
Schneller als ursprünglich geplant befindet sich der Prozess gegen den Syrer auf der Zielgeraden. Bundesanwaltschaft und sämtliche Nebenklägeranwälte haben bereits die Höchststrafe für ihn beantragt: lebenslange Haft mit besonderer Schwere der Schuld und anschließender Sicherungsverwahrung. Die Anklagevorwürfe – dreifacher Mord, zehnfacher versuchter Mord und Mitgliedschaft in der Terrorgruppe IS – hätten sich voll bestätigt. Am Dienstag sind die Verteidiger mit ihren Plädoyers an der Reihe. Am Mittwoch soll das Urteil verkündet werden.
Kein Zweifel an Täterschaft
An der Täterschaft des Syrers besteht kein Zweifel. Die Beweislage wäre auch ohne sein Geständnis erdrückend: Es gibt seine Spuren an der Tatwaffe, Opferblut an seiner Kleidung, zahllose Zeugenaussagen, ein Bekennervideo, aufgenommen mit seinem Handy, dazu eins mit einem Treueschwur auf den IS-Kalifen, ein weiteres für seine Eltern.
Welche Strafe für ihn denn gerecht wäre, fragte Psychiater Johannes Fuß den 27-Jährigen bei der Untersuchung. Ihn sollte man zwei, drei Jahre beobachten, aber seinen Telegram-Kontaktmann, den sollte man hinrichten, war die Antwort.
Dass es so nicht kommen wird, davon geht der 27-Jährige wohl selbst aus. Jedenfalls stellte er sich dem Psychiater mit den Worten vor: „Ich bin Issa, ich habe drei Leute umgebracht. Da bekommt man 80 Jahre. Ich warte auf den Tod.“
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Indizien summierten sich von Prozesstag zu Prozesstag
Lange hatte al H. sich als Opfer der Manipulationen seines Telegram-Chatpartners dargestellt. Doch die Indizien für seine IS-Nähe, seine jahrelange Radikalisierung und seinen islamistisch geprägten Hass summierten sich von Prozesstag zu Prozesstag.

So bescheinigte der Islam-Sachverständige Guido Steinberg dem Angeklagten, mit der speziellen Terminologie des IS sehr vertraut zu sein. Bereits seit Ende 2019, also noch bevor er nach Deutschland kam, habe er sich radikalisiert, bilanzierte die Bundesanwaltschaft. Nachdem er zunächst immer mehr islamistische Inhalte konsumiert habe, habe ersie später auch selbst verbreitet. Die Behörden bekamen davon offenbar nichts mit.
„Sein wahres Gesicht gezeigt“
Seine Tat hatte er zunächst als Rache für die Massaker „der Kreuzzügler“ an Muslimen in Bosnien, dem Irak und weiteren Ländern bezeichnet, ein anderes Mal waren es die toten Kinder im Gaza-Streifen und die Waffenlieferungen Deutschlands an Israel, die ihn zu der Tat getrieben hätten. Eigentlich habe er ja einen Brandsatz auf die israelische Botschaft in Berlin werfen wollen, aber dann habe er in Solingen die Vorbereitungen zum Stadtfest wahrgenommen. Tanzen, während in Gaza die Kinder sterben? Das habe er nicht hinnehmen können.
„Erst kurz vor Ende der Beweisaufnahme hat er sein wahres Gesicht gezeigt: das des Dschihadisten und Islamisten“, sagt Antje Groenewald als Vertreterin der Bundesanwaltschaft über den Angeklagten. Er habe darauf gedrungen, dass der IS den Anschlag für sich reklamiert, wie es dann auch geschehen war.
Der Psychiater sieht bei dem Mann ein hohes Rückfallrisiko. Zur islamistischen Ideologie komme bei ihm ein Mangel an Empathie und eine Faszination für Gewalt. Daraufhin hatte das Gericht den Hinweis gegeben, dass für Issa al H., immerhin nicht vorbestrafter Ersttäter, dennoch die Sicherungsverwahrung in Betracht komme.
Keine Einschränkung der Schuldfähigkeit
Trotz eines Intelligenzquotienten von nur 71 hatte der Psychiater keine Einschränkung der Schuldfähigkeit festgestellt. Ab 69 oder niedriger gilt man als geistig behindert und könnte mit einer Feststellung der verminderten Schuldfähigkeit rechnen. In Syrien liege man mit 71 aber noch im unteren Normbereich, sagte Psychiater Fuß.
Nebenklage-Vertreter Simon Rampp sagte, der Angeklagte habe 13 friedlich feiernde Besucher des „Festivals der Vielfalt“ im Dunkeln und von hinten mit einem Messer angegriffen. „Mehr Heimtücke geht nicht.“ Die Version des Angeklagten, während der Tat unter einer Wahnvorstellung gelitten zu haben, sei eine plumpe Schutzbehauptung.
Seit der Attacke auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016 war der Anschlag von Solingen der erste in Deutschland, zu dem sich der IS bekannt hatte. In der Folge wurden Sicherheitspakete geschnürt und beschlossen. Ein Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags prüft zudem, wieso die Abschiebung von Issa al H. nach Bulgarien scheiterte. Das erwartete Urteil im Prozess wird nun ein weiterer Punkt bei der Aufarbeitung der Tat sein.