Von 43 auf 80 Jahre in zehn Minuten: So fühlt sich Altsein an

Bielefeld. Mühsam schleppt sich eine Frau durch die Bielefelder Innenstadt. Sie kommt nur langsam voran, schwer stützt sie sich auf ihren Rollator, der Rücken ist krumm, die Schritte sind unsicher. Als sie die Straßenseite wechseln will, dreht sie umständlich und steif den Oberkörper in alle Richtungen, um sicherzugehen, dass die Fahrbahn frei ist. Die Frau ist 43 – und hat ehrlicherweise schon nach 15 Minuten genug vom Experiment &bdquo;Altsein“. Schon im Vorfeld des Selbstversuchs war ich skeptisch bis ängstlich. Zwar ist das Altwerden noch weit weg, aber schon jetzt sorgt vor allem die Lage im Gesundheitssystem und in der Pflege dafür, dass ich mir manchmal bereits Gedanken mache, wie das werden soll. Nun fühle ich es am ganzen Körper, und zwar weitaus realistischer und krasser, als ich es erwartet hatte. Von Kopf bis Fuß stecke ich im Alterssimulations-Anzug GERT. An Fuß- und Handgelenken hängen schwere Manschetten, an den Füßen trage ich ebenfalls beschwerte Spezialschuhe. Um Knie und Ellenbogen sind enge Bandagen befestigt, die verhindern, dass ich meine Gelenke leicht bewegen kann. Um den Hals wickelt sich eine Krause, die meine Kopfbeweglichkeit einschränkt. An den Händen kleben an diesem schwülen Vormittag blaue medizinische Handschuhe, darüber ziehen wir mir noch schwarze Handschuhe, die die Fingerspitzen freilassen, aber die Beweglichkeit meiner Finger stark beeinträchtigen. Mit Rollator und Gehstock ab auf die Bielefelder Straßen Mit Abstand am schwersten aber ist die schwarze Weste um meine Körpermitte. Sie zieht mich mit mehreren Kilos Gewicht erbarmungslos nach unten. &bdquo;Und du bist noch jung und schlank, hast Muskulatur, die dir beim Tragen hilft“, sagt Annette Köhne, stellvertretende Leiterin der Schule für Physiotherapie des Evangelischen Klinikums Bethel. Sie hat die zwei Gegenstände in der Hand, die mein Outfit vervollständigen: eine Skibrille, die mein Sehen beeinträchtigt, und Lärmschutzkopfhörer. Unter die kommen noch Ohrstöpsel. Als ich fertig angezogen bin, fühle ich mich unförmig, bleischwer, von meiner Umgebung abgeschnitten, nach wenigen Minuten fange ich an zu schwitzen. Köhne schiebt mir einen Rollator zu. &bdquo;Damit geht’s bestimmt besser. Oder willst du lieber den Gehstock?“ Beides, entscheide ich und hänge den Stock schnell an den Handgriff meines Gefährts. Zumindest ist das meine Absicht. Es wird ein umständliches, fahriges Hantieren daraus, denn zackige, präzise Bewegungen sind mir gar nicht mehr möglich. Die Brille schränkt mein Gesichtsfeld ein, die Halskrause verhindert, dass ich den Kopf gut nach unten neigen kann. Mit den Handschuhen fummle ich unbeholfen an der Lasche des Stocks, um ihn aufzuhängen, bekomme die Bänder nicht auseinander. &bdquo;Mann!“, entfährt es mir ungeduldig. Doch schließlich bin ich parat – mehrere Minuten habe ich für die simple Aktion gebraucht. Behäbig schiebe ich zum Fahrstuhl, um die Innenstadt als körperlich alte Frau zu entdecken. &bdquo;Die gelb gefärbte Welt macht mich ganz wahnsinnig“ Draußen hüllt mich erbarmungslos die Wärme ein. Ich neige eher wenig zum Schwitzen, aber jetzt bricht mir sofort der Schweiß aus. Jeder Meter fühlt sich an wie eine Ewigkeit, und an der nächsten Straßenecke würde ich mich am liebsten schon auf meinem Rollator niederlassen. Dabei habe ich nur unter Last und Unbeweglichkeit zu leiden, nicht aber unter Schmerzen, die viele alte Menschen im Alltag ständig begleiten. Als mein Blick auf eine große Schaufensterscheibe fällt, erschrecke ich mich. Das Wesen, das sich dort spiegelt, sieht aus wie ein Roboter und bewegt sich wirklich genau wie ein sehr alter, kranker Mensch. Als ich die Straßenseite wechseln will, merke ich, wie unsicher ich dadurch werde, dass meine Sinne beeinträchtigt sind. Ich höre kaum etwas, würde ein herannahendes Auto nicht am Klang wahrnehmen. Ich höre keine Vögel, höchstens das allgemeine Verkehrsrauschen und weiter entfernt eine Sirene. Die Gelbfärbung meiner getönten Skibrille, die zudem etliche Kratzer hat, macht mich ganz verrückt, die Welt gefällt mir so gar nicht. Der Verfärbung entspricht aber ebenfalls der Realität vieler älterer Menschen, denn mit dem Alter verfärben sich die Augenlinsen gelblich. Hinzu kommt: Die starke Einschränkung meines Sichtfeldes durch die Ränder der Brille führt dazu, dass ich immerzu den Kopf drehen müsste, um mehr zu sehen. Das wiederum verhindert die Halskrause, weshalb ich den ganzen Oberkörper drehe – und an dem hängt die Sieben-Kilo-Weste. Es ist wahnsinnig anstrengend. Flucht aus dem Bielefelder Kiosk Im benachbarten Kiosk herrschen etwa 30 Grad. Die Verkäuferin blickt mich entgeistert an, als ich den Laden betrete, dabei habe ich Maske und Kopfhörer schon abgenommen, um nicht allzu vermummt auszusehen. &bdquo;Was ist Ihnen denn passiert?“, fragt sie entsetzt. Ich erkläre ihr kurz mein Experiment und setze Maske und Kopfhörer wieder auf, um die Regale zu inspizieren. Zweimal spricht die Verkäuferin mich an, ich verstehe sie nicht, muss mehrmals nachfragen. Am Schluss schreien wir beide fast. Das ist mir so unangenehm, dass ich meinen Einkaufsbummel abkürze, wahllos eine Packung Eiskonfekt aus der Kiste greife und zur Kasse wanke. Hier wird mir klar, wozu ich noch die medizinischen Handschuhe trage: Sie schränken mein Gefühl in den Fingerspitzen ein. Auch das kann im Alter passieren. Ich krame also sehr unbeholfen nach meiner Geldkarte. Langsam, aber in meiner Vorstellung fluchtartig, verlasse ich den Kiosk. Ich zwinge mich noch zu einer Extrarunde durch die Nachbarschaft. Nach 10 Minuten gebe ich auf. Zum einen kann ich die entgeisterten Blicke der Passanten nicht mehr aushalten, zum anderen kann ich schlicht nicht mehr. Ich fühle mich so unendlich schwer, meine Schultern schmerzen und von der Hitze habe ich Kopfschmerzen. Also kehre ich zurück in die Physiotherapieschule und zu Annette Köhne. Alltag alter Menschen ist auch Scham und Abgeschnittensein Die hört sich meinen Bericht an und nickt bei allen Schilderungen. &bdquo;Damit hast du jetzt genau das erlebt, was auch Alltag alter Menschen ist abseits der physischen Einschränkungen: Scham, Abgeschnittensein, Ausgrenzung, Traurigkeit über die nachlassenden Fähigkeiten.“ Ich schaue sie an und merke, wie die Angst vor diesem Abschnitt meines Lebens in mir hochsteigt. &bdquo;Aber man muss ja nicht alles das bekommen, was der Anzug simuliert“, sage ich fast trotzig. &bdquo;Nein, muss man nicht“, stimmt Köhne zu. &bdquo;Und man kann auch gegenhalten, mit gesunder Lebensweise, Sport, Muskelaufbau.“ Als ich mich ausziehe, fällt Manschette für Manschette, Kilo für Kilo, die Schwere von mir ab – nicht nur körperlich. Nach anderthalb Stunden im Anzug fühle ich mich unendlich leicht, spüre, wie viel Kraft ich habe und wie jung ich noch bin. Vielleicht habe ich nach dieser Erfahrung künftig mehr Angst vor dem Altwerden. Mit Sicherheit ist mein Respekt davor gestiegen, vor welche Herausforderungen viele alten Menschen gestellt sind. Ganz klar weiß ich meinen Körper in all seiner Funktionalität jetzt noch mehr zu schätzen. Und vermutlich hat auch mein innerer Schweinehund wichtige Lektionen mitgenommen.

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