Zu Fuß aus Syrien geflohen: Jetzt startet Mohammed Nazir in Bielefeld als Lehrer

Bielefeld. Mohammad Nazir floh aus Syrien zu Fuß bis zur türkischen Grenze. Von Izmir aus wagte der sportliche Mann die Überfahrt übers Meer. &bdquo;Wir waren rund fünfzig Personen auf einem Gummiboot – Kinder, Babys, Frauen, Männer. Es war so eng, dass wir uns kaum bewegen konnten. Irgendwann drang Wasser ins Boot. Zum Glück wurden wir von griechischen Fischern gerettet.“ In Deutschland angekommen, schlief er drei Monate lang auf einer Matratze in einer Sporthalle im Bielefelder Stadtteil Stieghorst, ohne zu ahnen, dass er Jahre später als Sportlehrer in genau diese Halle zurückkehren würde. &bdquo;Den Platz, an dem ich damals übernachtet hatte, habe ich jeden Tag im Unterricht gesehen.“ Möglich wurde das durch das Programm Lehrkräfte Plus, das im Jahr 2017 als eines der ersten Angebote seiner Art an der Universität Bielefeld gestartet ist. Die Initiative entstand vor dem Hintergrund des starken Zuzugs Geflüchteter ab 2015. Ziel war es, Lehrerinnen und Lehrern, die in ihren Herkunftsländern bereits unterrichtet hatten, einen beruflichen Neustart an deutschen Schulen zu ermöglichen. Brücken bauen für Lehrkräfte mit Migrationshintergrund Mittlerweile richtet sich das Qualifizierungsprojekt nicht mehr nur an Menschen mit Fluchterfahrung, sondern ist offen für alle international ausgebildeten Lehrkräfte. Sie absolvieren ein Jahr lang Kurse in Deutsch, Pädagogik und interkulturellem Lernen. Anschließend folgen ein umfangreiches Schulpraktikum sowie Beratung zu ihren beruflichen Perspektiven und Unterstützung bei Bewerbungen an Schulen. Lesen Sie auch: Alleinerziehende Ukrainerin in Paderborn: &bdquo;Wir kriegen oft keine Chance“ Die Projektkoordinatorin Kristina Purrmann erklärt: &bdquo;Wir versuchen, Brücken zu bauen für Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund, die viel Berufserfahrung mitbringen. Sie möchten im deutschen Bildungssystem tätig werden. Das ist ein großer Schritt, denn die Situation hier unterscheidet sich deutlich von der in den Schulen ihrer Herkunftsländer.“ Unterschiede in der Lernkultur In der Mensa der Universität Bielefeld sitzen Studierende aus aller Welt an langen Tischreihen, löffeln deutschen Eintopf, diskutieren über Klausurergebnisse oder tauschen sich über Partypläne aus. Junge Menschen lachen, Tabletten klappern, Smartphones klingeln. Da fällt eine Gruppe arabischer Frauen kaum auf. &bdquo;Ich freue mich so sehr, dass ich noch einmal studieren darf“, sagt Meyda Ibrahim mit leuchtenden Augen. Die 36-Jährige hat vor achtzehn Jahren in Damaskus ihr Englischstudium begonnen und nach dem Abschluss als Lehrerin in Syrien gearbeitet. Eine Mathematiklehrerin aus dem Irak stimmt ihr zu: &bdquo;Es ist toll, wieder an der Uni zu sein. Ich hätte nie gedacht, dass ich nach der Flucht und all den Herausforderungen noch einmal in einem Seminarraum sitzen würde.“ Auch diese Frauen sind Teilnehmerinnen an dem Programm Lehrkräfte Plus. Viele der Teilnehmenden sind an einen sehr lehrkraftzentrierten Unterricht gewohnt. Während Meyda Ibrahim ihren Nachtisch umrührt, erzählt sie: &bdquo;Meine Arabischlehrerin in Syrien war streng. Während der Schulstunde dürften wir kein einziges Wort sagen.“ Eine kurdische Kommilitonin hat Ähnliches erlebt: &bdquo;Wenn der Lehrer sprach, war es verboten, sich zu melden.“ In Deutschland erleben die Frauen nun eine völlig andere Lernkultur. Die Klassenräume sind lebhafter, der Unterricht ist offener und viele Kinder treten selbstbewusst auf. Lehrkräfte sollen ihren Unterricht flexibel gestalten, erläutert Kristina Purrmann: &bdquo;Da ist Kreativität gefragt. Für viele ist es eine große Umstellung, von einer eher autoritären zu einer moderierenden Rolle zu wechseln. Doch das weckt auch Begeisterung. Die meisten finden es gut, dass Kinder hier mehr Freiheiten haben.“ Der Weg von Mohammad Nazir Zurück zu Mohammad Nazir: Dem Sportlehrer ist der Weg zurück in den Lehrberuf gelungen. Vor zehn Jahren floh er aus Syrien, nachdem er im Krieg viele Freunde verloren hatte. &bdquo;Sie sind tot, weil sie sich gegen das Assad-Regime aufgelehnt haben. Während meiner Zeit an der Universität habe ich oft Leichen auf den Straßen gesehen.“ Nach seinem Studium hat er in Syrien drei Jahre lang als Sportlehrer gearbeitet. Die Bedingungen waren schwierig. Schon sein Schulweg war gefährlich. &bdquo;Ich bin oft an Soldaten vorbeigekommen“, erinnert er sich. &bdquo;Einmal haben sie mich angehalten, kontrolliert und zum Dienst in der Armee eingezogen. Schon zu Beginn der militärischen Grundausbildung war mir klar, dass ich da falsch war. Ich würde nie eine Waffe gegen mein eigenes Volk richten. Deshalb bin ich abgehauen.“ Auch interessant: Flucht vor Ukraine-Krieg: Vater findet Job in Schüco-Arena in Bielefeld Die Pädagogin Kristina Purrmann weiß, dass einige Teilnehmende des Programms Lehrkräfte Plus Krieg und Gewalt erlebt haben. &bdquo;Manchmal wird das zum Thema“, sagt sie. &bdquo;Wenn wir merken, dass jemand Zeit braucht, um solche Erfahrungen zu verarbeiten, vermitteln wir den Kontakt zur Psychologischen Beratungsstelle der Universität.“ Vom Taschengeld zum Traumberuf: Der starke Wille von Nazir Seit 2017 sind deutschlandweit ähnliche Programme entstanden, deren Konzepte sich an dem erfolgreichen Modell von Lehrkräfte Plus orientieren. &bdquo;Es ist schön, zu sehen, dass diese Idee weitergetragen wird“, freut sich Kristina Purrmann. &bdquo;In den vergangenen Jahren ist jedes Jahr mindestens eine neue Initiative entstanden.“ Während des Programms Lehrkräfte Plus erhalten die Teilnehmenden finanzielle Unterstützung vom Jobcenter. Mohammad Nazir bekam seine Wohnkosten erstattet und ein monatliches Taschengeld von 435 Euro. Damit musste er seine übrigen Lebenshaltungskosten bestreiten. Es war ihm wichtig, so bald wie möglich ein reguläres Gehalt zu verdienen. &bdquo;Ich wollte kein Geld vom Jobcenter“, sagt Mohammad Nazir. &bdquo;Ich wollte selbst etwas verdienen.“ Vor allem aber wollte er sich seinen Traum erfüllen, wieder als Lehrer zu arbeiten. &bdquo;Als ich im ersten Integrationskurs davon sprach, haben die anderen gelacht und gesagt, das würde ich nie schaffen. Das sei zu schwierig. Aber ich habe an meinem Ziel festgehalten – und jetzt arbeite ich als Lehrer.“ Deutschland braucht ausgebildete Lehrkräfte wie Mohammad Nazir. &bdquo;Es herrscht Lehrkräftemangel“, betont Kristina Purrmann. &bdquo;In einigen Schulen sind nur 60 Prozent der Stellen besetzt. Da kann Lehrkräfte Plus sicher einen Beitrag leisten.“ Allein im Grundschulbereich fehlen bundesweit 25.000 Lehrkräfte. Die Kultusministerkonferenz geht davon aus, dass der Mangel bis mindestens 2030 anhalten wird. Nazirs Erfolg als Vorbild Zudem treffen Lehrkräfte in deutschen Klassenzimmern auf Schülerinnen und Schüler, von denen im Schnitt ein Drittel einen Migrationshintergrund hat. Häufig sind es sehr viel mehr, gerade in Großstädten. &bdquo;Aber in den Lehrerzimmern spiegelt sich das kaum wider“, meint Kristina Purrmann. &bdquo;Es gibt nur sehr wenige Lehrkräfte mit Migrationshintergrund. Das war auch ein Grund für den Aufbau des Programms. Wir wollen den Schulen die Möglichkeit geben, diverser zu werden.“ Mehr zum Thema: Gewerkschaft: Bis 2030 fehlen Zehntausende Lehrkräfte Mohammad Nazir konnte nach dem erfolgreichen Abschluss des Programms halbtags als Vertretungslehrer in Stieghorst arbeiten. &bdquo;Ich musste viel einspringen, wenn Kollegen krank waren oder auf Fortbildung.“ Währenddessen hat er sich auf fünf Vollzeitstellen beworben. &bdquo;Ich bekam vier Zusagen.“

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