Minderheitsregierungen als Risiko? Diese Erfahrungen hat NRW gesammelt

Düsseldorf. Interessiert und besorgt zugleich blickt Deutschland nach Thüringen und Sachsen. Da es nach den Landtagswahlen keine klaren Mehrheitsverhältnisse gab, gehen dort nun Minderheitsregierungen an den Start. Doch ist dieses Modell geeignet, um den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden? Eine Antwort findet sich auch in NRW, wo es von 2010 bis 2012 eine rot-grüne Minderheitsregierung gab. Die Beteiligten denken gerne an dieses politische Abenteuer zurück. Sachsen: Ein Bündnis wie eine schwankende Elbbrücke &bdquo;Das war die spannendste Zeit für mich als Abgeordneter“, sagt Günter Garbrecht. Der Bielefelder saß zehn Jahre lang für die SPD im Landtag und führte mehrere Jahre lang den Sozial- und Gesundheitsausschuss. Zur Zeit der Minderheitsregierung von SPD und Grünen habe das Parlament &bdquo;wirklich etwas zu sagen“ gehabt, weil es Gesetze aushandeln musste – &bdquo;und nicht die Regierung“, sagt Garbrecht. &bdquo;Ich musste unter der Woche oft noch bis spätabends Abgeordnete anderer Fraktionen bearbeiten. Das war ein anderer Politikstil und ein Gewinn für die Demokratie.“ So sieht es auch Sigrid Beer. Die Grünen-Politikerin aus Paderborn war damals parlamentarische Geschäftsführerin ihrer Fraktion – und habe die Zeit der Minderheitsregierung als &bdquo;äußerst bereichernd“ erlebt. Die Ministerien hätten nicht einfach einen Gesetzesentwurf in den Landtag einbringen können, sondern die Fraktionen &bdquo;mussten Kompromisse ausloten“, erinnert sich Beer. Der Grund: SPD und Grünen hatten nicht genug Stimmen für eine Mehrheit. Wenn sie ein neues Gesetz verabschieden wollten, mussten sie sich immer eine Mehrheit suchen. Rot-Grün setzte in NRW mit der CDU den Schulkonsens durch Rot-Grün stand damals im Verruf, insgeheim eine Koalition mit der Linken zu führen, weil die Fraktion viele Anliegen unterstützt habe. Das sei &bdquo;Unfug“, meint Beer. &bdquo;Wir haben mit der CDU den Schulkonsens durchgesetzt, mit den Linken die Studi-Gebühren eingeführt und mit der FDP den Stärkungspakt für die Kommunen.“ Tatsächlich zeigt ein Rückblick, dass es SPD und Grünen gelungen war, unterschiedliche Mehrheiten zu organisieren. Zwanzig Gesetze kamen durch entscheidende Stimmen der Linken zustande, vier durch Stimmen der CDU, eins durch die FDP, eins durch CDU und FDP, fünf durch FDP und Linke sowie drei Gesetze, bei denen alle drei Fraktionen zustimmten. &bdquo;Das war eine Sternstunde des Parlaments“, sagt Thomas Kutschaty. Der SPD-Politiker war damals NRW-Justizminister. Er habe die Zeit für die Minister zwar als &bdquo;anstrengender“ empfunden, aber: &bdquo;Ich würde nicht sagen, dass in dieser Zeit schlechtere Gesetze auf den Weg gebracht worden sind.“ Heute seien 95 Prozent der Gesetzesentwürfe Regierungsentwürfe, die dann mit Mehrheit der Regierungsfraktionen &bdquo;durchgewinkt“ würden. Als Abgeordneter müsse man nicht inhaltlich in die Tiefe gehen, &bdquo;sondern einfach nur die Hand heben“, sagt Garbrecht. Weiterer Nachteil: &bdquo;Als Oppositionsfraktion kann man da kaum mehr Einfluss nehmen“, moniert Kutschaty. Tatsächlich werden heute Anträge der Opposition – so gut sie auch sein mögen – nahezu immer von den Regierungsfraktionen abgelehnt. Als &bdquo;ritualisiertes Ablehnen“ bezeichnet das Garbrecht. &bdquo;So was würde es in einer Minderheitsregierung nie geben.“ Auch Kutschaty meint, dass die Opposition zu Zeiten der Minderheitsregierung &bdquo;ein Stückchen mitregiert“ habe. Vor diesem Hintergrund wirken Sorgen angesichts der neuen Minderheitsregierungen in Sachsen und Thüringen nahezu unbegründet. In den Augen von Politikwissenschaftler Stefan Marschall handelt es sich bei diesem Modell keineswegs um den &bdquo;Untergang des Abendlandes.“ Man sehe auf Landesebene, &bdquo;dass das funktionieren kann“. Marschall sieht aber heute einen wichtigen Unterschied zur Zeit von 2010 bis 2012 in NRW. &bdquo;In Sachsen stellt sich schon die Frage, wie die Akteure damit umgehen werden, wenn die AfD ihnen letztlich mit ihren Stimmen eine Mehrheit verschafft – und das immer wieder“, sagt der Politikwissenschaftler von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Politiker sorgen sich um Relativierung der AfD &bdquo;Große Bedenken“ mit Blick auf Sachsen formuliert auch Grünen-Politikerin Beer. Die AfD werde dort aufgewertet, indem sie einbezogen werden solle. &bdquo;Das verdeckt in meinen Augen, dass da der ersten Zusammenarbeit mit der AfD der Weg geebnet wird. Das ist ein Dammbruch, ich halte das für verwegen“, sagt Beer. &bdquo;Wenn ich von vornherein weiß, dass ich auf die AfD angewiesen bin, würde ich keinen Gesetzesentwurf zur Abstimmung stellen. Das gehört sich nicht. Das wäre auf jeden Fall das Einreißen der Brandmauer“, meint auch Kutschaty. Es brauche dann &bdquo;andere Kompromisse – ohne die AfD“, sagt Beer. Lesen Sie auch: Umgang mit der AfD: Ein Feuer-Test für unser Land Kutschaty glaubt, dass man das Modell der Minderheitsregierung nun durchaus häufiger &bdquo;diskutieren“ werden müsse. In den Augen Marschalls wird es wahrscheinlicher, dass das Modell auch auf Bundesebene stattfinden wird, so wie zum Beispiel in Skandinavien. Die großen Parteien in Deutschland würden kleiner; kleinere Parteien kämen hinzu. Minderheitsregierungen entstünden also, wenn sich ein Parteiensystem zunehmend fragmentiere und nicht alle mit allen zusammenarbeiten wollten. &bdquo;Das sehen wir jetzt auch in Deutschland.“ Laut Marschall und Kutschaty sind Minderheitsregierungen jedoch instabiler als klassische Mehrheitsregierungen. &bdquo;Es ist wahrscheinlicher, dass sie vor Ende einer Legislatur zerbrechen“, sagt Marschall. Letztlich spiele aber die &bdquo;Bereitschaft“ der Akteure die entscheidende Rolle. In NRW endete das Experiment nach zwei Jahren – SPD und Grünen hatten danach wieder eine stabile Mehrheit. Grund zu ausgelassener Freude war das aber selbst in den eigenen Reihen nicht überall. &bdquo;Ich habe das Ende der Minderheitsregierung sehr bedauert, auch wenn wir als SPD danach ja einen Wahlsieg hatten“, gibt Garbrecht zu. &bdquo;Denn dann liefen die alten Rituale wieder ab.“

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