Mehr als 50 Prozent AfD: Woher kommt der Frust in diesem Lipper Ortsteil?

Detmold-Herberhausen. Wer reinfährt, wird verschluckt. So fühlt es sich an, wenn man auf eine der drei Straßen einbiegt, die nach Herberhausen führen. Durchfahren ist nicht möglich – es geht nur rein und wieder raus. Drinnen stehen Plattenbau, Einfamilienhäuser und grüne Parkflächen dicht beieinander und doch kilometerweit voneinander entfernt. Die Siedlung wirkt wie abgeschnitten. Nicht nur lage-, sondern auch gefühlsmäßig. Kein Wunder, dass sich hier teils eigene Welten erschlossen haben – und Unzufriedenheit wie Unkraut wächst. Das Problem ist nicht neu. Seit Jahrzehnten wird ehemals Hakedahl mit Begriffen wie &bdquo;Problemviertel“ und &bdquo;sozialer Brennpunkt“ stigmatisiert. Das Image konnte auch ein neuer Name nicht aufpolieren, dabei ist die Kriminalität hier längst nachweislich gesunken. Inzwischen sei Herberhausen ein ganz normaler Ortsteil wie jeder andere in Detmold, das sagt auch die Polizei. Was dennoch auffällt: Vorrangig leben hier zwei größere Gruppen, Spätaussiedler und Geflüchtete aus arabischen Ländern, in getrennten Straßenzügen nebeneinander her. Die Ergebnisse der jüngsten Europawahl machen daher nachdenklich. Irgendwas läuft schief – nur was? Das Wahlergebnis täuscht: zu wenig Menschen haben gewählt Trotz vieler Gespräche vor Ort lässt sich das Bild nicht schwarz auf weiß ausmalen – genauso wenig, wie das Wahlergebnis eine Milieustudie zulässt. Dafür haben zu wenig Menschen dort gewählt. Von den 1.078 Wahlberechtigten in Herberhausen haben 371 ihre Stimme abgegeben – das sind mit 34,43 Prozent gerade einmal ein Drittel. Knapp die Hälfte davon, 50,54 Prozent, gab der AfD ihr Kreuz. Danach folgte mit 17,2 Prozent das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) und erst auf Platz 3 schaffte es die jahrelang am stärksten vertretende Partei: die CDU. Was lässt sich daraus ablesen? Die meisten Menschen in Herberhausen scheinen so frustriert zu sein, dass sie gar nicht erst wählen gehen. Der wütende kleine Teil wählt mit großer Mehrheit Rechts. Ortsbürgermeister Andreas Rempel (CDU) engagiert sich seit 26 Jahren in Herberhausen. Seine Kinder sind hier aufgewachsen, er schätzt die Menschen und den Ort. Immer wieder geht er in den direkten Austausch und hat inzwischen einen Erklärungsversuch. Rempel sagt, die wenigsten Bewohnerinnen und Bewohner würden aus fremdenfeindlichen Motiven die AfD wählen. Aber: Zum Teil hänge der Erfolg der Rechtspopulisten mit den hier lebenden Spätaussiedlern zusammen. &bdquo;Viele der russlanddeutschen Aussiedler bringen ein Trauma aus ihren Heimatländern mit“, glaubt Rempel. Egal, ob aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Kasachstan, Usbekistan oder Tadschikistan: &bdquo;Der Islam hat für die Menschen dort eine Bedrohung dargestellt, die Angst steckt immer noch tief in den Köpfen“, sagt Rempel. &bdquo;Das kriegt man auch nicht mehr raus.“ Seiner Ansicht nach könnte nur ein Generationswechsel helfen. &bdquo;Die Kinder, die jetzt miteinander aufwachsen und zur Schule gehen, die können was ändern.“ Lesen Sie auch: Rechtsruck in OWL bei Europawahl: Das sind die AfD-Hochburgen der Region Dass ein historisch gewachsenes Trauma den Wahlerfolg der AfD bei der russlanddeutschen Community erklären könnte, hält das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold, das sich viel der Forschung widmet, für unwahrscheinlich. &bdquo;Es gibt dieses Trauma nicht“, sagt Kulturreferent Edwin Warkentin. &bdquo;Das ist eine Legende, die von Populisten gemacht wurde.“ Er selbst kam im Alter von 14 Jahren mit seiner Familie aus Kasachstan nach Deutschland. &bdquo;Das Problem liegt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart. Herberhausen ist eine prekäre Wohnlage, die Menschen dort sind unzufrieden.“ Keine Gemeinschaft: Kulturen und Mentalitäten passten nicht Dass viele Menschen in Herberhausen frustriert sind und sich von der Politik im Stich gelassen fühlen, das weiß auch der Ortsbürgermeister. &bdquo;Dann sehen sie, wie die kurdische Mutter Müll auf dem Spielplatz zurücklässt, weil sie es nicht besser weiß, und schon wächst der Frust.“ Die Kulturen und Mentalitäten passten einfach nicht zusammen, das ist, was Andreas Rempel in den Jahrzehnten beobachtet hat. Eine Gemeinschaft daraus erwachsen zu lassen, sei schwierig. Tatsächlich liegen an einigen Straßenzügen, in denen vorrangig Geflüchtete wohnen, mehr Papierberge und Plastiktüten als anderswo. Rempel: &bdquo;Die Menschen, die herkommen, müssen erst einmal lernen, wie das hier mit der Mülltrennung funktioniert.“ Verständnis dafür gebe es bei den anderen oftmals nicht, dafür wachse mit jedem Müllberg auch der Frust an. Die AfD scheint diesen gekonnt genutzt zu haben – nicht zuletzt mit einem aggressiven Wahlkampf. Mehrere Menschen vor Ort behaupten, zwei Detmolder AfD-Politiker hätten die ganze Siedlung von Tür zu Tür nach Stimmen abgegrast. Auf Anfrage weist Viktor Hübner, Fraktionsmitglied der AfD in Detmold, das zurück. Es habe in Herberhausen nur Wahlstände gegeben, dazu sei die Partei mit dem Auto herumgefahren. &bdquo;Wir waren in Heberhausen schon immer stark, weil die Menschen hier am ehesten spüren, was die Ampelregierung falsch macht“, sagt Hübner zum Wahlerfolg. Dazu zählten Energiekosten und die unkontrollierte Zuwanderung. Bewohner wollen nicht über Wahlergebnisse sprechen Die Ergebnisse der Europawahl bringen dennoch ein merkwürdiges Bauchgefühl mit. Beim Rundgang in der Siedlung sind die meisten Bewohnerinnen und Bewohner erst freundlich und gesprächsbereit, blocken dann aber schnell wieder ab, wenn es um die Wahlergebnisse geht – andere verstehen plötzlich kein Deutsch mehr. Ein Mann, Mitte 30, steigt extra aus seinem Bulli aus, fühlt sich mit der Frage dann aber offensichtlich unwohl. &bdquo;Ich will mich dazu nicht äußern. Was glauben Sie, weshalb die AfD so erfolgreich ist? Haben Sie mal TikTok gesehen?“ Es bleibt unklar, was er damit meint. Fakt ist, dass die AfD im Gegensatz zu anderen Altparteien den Nutzen von Social Media gerade bei jüngeren Zielgruppen erkannt zu haben scheint und dort sehr aktiv ist. Lesen Sie auch: Europawahl 2024: In diesem Bielefelder Stadtbezirk hat die AfD ihre besten Ergebnisse geholt Die &bdquo;Wahlwerbung“ spielt sich aber wohl auch häufig in heimischen Wohnzimmern ab. Davon geht Kornelius Ens, Leiter des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte, stark aus. Es sei nicht auszuschließen, dass hinter den adretten Einfamilienhäusern genau wie im Plattenbau nach wie vor mit russischem Fernsehen auch Putins Propaganda in viele Köpfe durchdringt. Auch ein Grund, weshalb das BSW mit einer &bdquo;Putin-Sympatisantin“ an der Spitze ebenfalls in Herberhausen stark sei. AfD im russischdeutschen Bildungsbürgertum kein großes Thema Einer Ethnie durch solche Beobachtungen einen bestimmten Stempel aufzudrücken, halten die Verantwortlichen des Museums dennoch für schwierig. Die AfD sei im russischdeutschen Bildungsbürgertum kein großes Thema, aber es gebe eben auch wie überall Menschen, die sich nicht integriert hätten. &bdquo;Die Sowjetunion sitzt hier noch im Nacken und damit auch eine Ungeübtheit, was demokratische Entscheidungen angeht.“ Noch dazu gebe es ein Problem mit der Identität. Als die Menschen in den 80er und 90er-Jahren nach Deutschland kamen, wurde von ihnen ein Bekenntnis zum deutschen Brauchtum verlangt. &bdquo;Dabei ging es darum, so deutsch wie möglich zu sein“, sagt Kornelius Ens. &bdquo;Die ganze Erinnerungskultur und Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges haben viele gar nicht mitbekommen.“ Wieder zurück in der Siedlung fallen die Flaggen auf, die aus einigen Häusern hängen – von Palästina bis Kasachstan. Während der untere Teil von schnuckligen Einfamilienhäusern besiedelt ist, reihen sich an den oberen Straßenzügen große Mehrfamilienhäuser aneinander. Ein älterer Mann kehrt gerade den Gehweg zu seinem Eingang. Dass so wenig Menschen in Herberhausen gewählt haben, könnte an den vielen unterschiedlichen Nationen liegen, die hier leben, schätzt er. Sein Deutsch ist gebrochen, mehr könne er nicht sagen. Ob er selbst wählen war, lässt er offen. Ein paar Schritte weiter auf einer Spielfläche, umringt von Plattenbau und vollbehängten Wäscheleinen, sitzt eine Seniorin und schaut ihrer Enkelin beim Spielen zu. 1991 kam sie als Aussiedlerin aus Kasachstan nach Deutschland, erzählt die 72-Jährige, seitdem habe sie keinen Tag von Sozialhilfe gelebt. &bdquo;Ich habe immer geputzt oder in der Küche gearbeitet.“ Dass so viel Geld ans Ausland – auch an die Ukraine – geht, ärgert sie. Viele im Ort sind zu unzufrieden, um zu wählen Sie und ihre Bekannten hätten am 9. Juni zwar gewählt, aber viele im Ort seien einfach zu unzufrieden, um überhaupt ihre Stimme abzugeben. &bdquo;Die sagen, egal, was man wählt, es ändert sich doch nichts – und dann bleibt nur noch die AfD, die tut wenigstens was.“ Wenn sie mit dem Bus in die Stadt fahre, säßen Menschen aus den unterschiedlichsten Nationen nebeneinander. &bdquo;Man hört kein Wort Deutsch – da fragt man sich schon: Wo leben wir hier eigentlich?“ In ihrem Dorf in Kasachstan habe ihre Familie mit türkischen und kurdischen Nachbarn Tür an Tür gelebt, das sei immer friedlich gewesen. Hier würden jetzt Marokkaner Unruhe in die Siedlung bringen. Eine Antwort auf die Wahlergebnisse findet sich auch nicht in der Freikirchlichen Kirchengemeinde in Herberhausen. Laut Ortsbürgermeister sind von den rund 430 Mitgliedern gerade einmal 30 aus dem Ortsteil. Der Pfarrer selbst meldet sich auf eine Nachricht nicht zurück. Auf Gut Herberhausen thront dagegen noch in einem imposanten Gebäude das Haus der Kirche, das von der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Detmold betreut wird. &bdquo;Wir sind immer noch dabei, diesen Schock zu verarbeiten“, sagt Leiterin Olga Eikmeyer. Seit 20 Jahren engagiert sie sich hier. Auch sie frustriert, dass die Ergebnisse einen falschen Blick auf die Menschen werfen. &bdquo;Die große Masse, die sich integriert hat, geht darin unter.“ Für Ortsbürgermeister Andreas Rempel bedeutet das, zur Kommunalwahl wieder bei den Bewohnerinnen und Bewohnern direkt auf der Matte zu stehen. Nur so könne man die Menschen überhaupt noch erreichen, meint der Christdemokrat. Die Europawahl sei nicht so wichtig gewesen, daher habe er sich zurückgehalten. Kommendes Jahr werde die Wahl anders ausgehen. Rempel sagt das mit fester Überzeugung in der Stimme &bdquo;Das Ergebnis beunruhigt mich nicht, aber es ist beschämend.“

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