Bielefelder Friedensaktivistin: „Kriegskurs der Grünen schockiert mich“

Frau Claußen, Sie organisieren seit Jahren mit Gewerkschaften, Kirchen, Migranten- und Flüchtlingsverbänden Friedens-Demos. Ausgerechnet die diesjährigen Ostermärsche in Bielefeld waren aber schlechter besucht als sonst. Warum? Angelika Claußen: Wir hatten in Bielefeld rund 800 Teilnehmer. Das ist in Ordnung. Aber es stimmt. In der Vergangenheit haben sich mehr Menschen beteiligt. Die Lage ist kompliziert. Es gibt innerhalb der Friedensbewegung unterschiedliche Ansichten zum Ukraine-Krieg und zu den westlichen Waffenlieferungen. Wie sehen die aus? Der Großteil – und dazu zähle ich auch – ist per sé strikt gegen Waffenlieferungen jeglicher Art. Aber einige Mitglieder sehen das anders, was ihr gutes Recht ist. Hinzu kommt, dass in den vergangenen Jahren aufgrund des türkischen Krieges gegen die kurdische Bevölkerung in Nordsyrien viele Kurden und Türken an unseren Demos teilgenommen haben, die diesmal aber in nicht so großer Zahl dabei waren. Sie haben Friedens- und Konfliktforschung studiert. Wenn Sie gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sind: Wie beurteilen Sie dann den aktuellen Kurs der Grünen? Die rasante Entwicklung der Grünen, von einer in ihren Anfängen pazifistischen Partei, hin zu einem politischen Akteur, der jetzt Rüstungskonzerne wie Rheinmetall unterstützt und nahezu bedingungslos fördert, hat mich absolut schockiert. Die Grünen haben schon während des Kosovo-Krieges 1999 eine Wendung weg vom Pazifismus gemacht, aber jetzt beteiligen sie sich zusätzlich zum Beispiel an einer massiven Aufrüstungsspirale, dem Zwei-Prozent-Ziel der Nato und an einem Sondervermögen für die Bundeswehr. Mein Eindruck ist, dass sie aktuell dafür ihre Kernthemen wie den Klimaschutz leichtfertig opfern. Ich hoffe nicht, dass dadurch auch noch wichtige Ausgaben für Bildung und Soziales auf der Strecke bleiben werden. Was ist denn die Alternative? Der Ukraine keine Waffen mehr zu schicken und zuzusehen, wie das Land den Krieg verliert? Nein. Aber nach zwei Jahren Krieg, der inzwischen ein Stellungskrieg ist, müssen wir doch feststellen, dass sich Waffenlieferungen und Friedensbemühungen nicht ausschließen dürfen. Ich bin der Meinung, dass die Gefahr einer Eskalation des Kriegs durch immer weitere Waffen steigt. Wir machen grundsätzlich ein Fragezeichen hinter die Sinnhaftigkeit von Waffenlieferungen. Der Krieg kann nur politisch beendet werden. Das klingt sehr theoretisch. Wie soll das denn konkret funktionieren – und wird das nicht bereits versucht? Es gibt zwei Ebenen, die dem Krieg zugrunde liegen. Das ist der territoriale Konflikt, für den Russland verantwortlich ist und für den es Verhandlungen ohne Vorbedingungen geben muss. Dafür müssen andere Staaten als Vermittler auftreten, vor allem China. Und dann gibt es eine zweite Ebene, die sich auf das Verhältnis Russlands und der Nato bezieht. Dabei handelt es sich um einen alten Machtkonflikt, bei dem Atomwaffen eine große Rolle spielen. Unser Vorschlag lautet: Die westlichen Atommächte USA, Frankreich und Großbritannien sollten den ersten Schritt gehen und die Atomdoktrin von China übernehmen, also auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen verzichten – unter der Voraussetzung, dass Russland mitzieht. Das wäre ein Angebot an China und an Russland. Die Putin-Regierung müsste darauf reagieren. Das ist eine alte Forderung der Friedensbewegung – von der das klare Signal ausginge, die Eskalationsspirale zu beenden. Hat die Ukraine nicht das Recht, zu entscheiden, wann und wie es zu Verhandlungen kommen soll? Doch, natürlich. Wenn die Ukraine sagt, dass sie Verhandlungen erst aufnimmt, wenn Russland die Waffen ruhen lässt, dann ist das keine Vorbedingung, sondern legitim. Und natürlich bedeutet eine Waffenruhe oder ein Einfrieren des Kriegs nicht, dass die russischen Truppen dauerhaft dort stehen bleiben dürften, wo sie sich aktuell befinden. Und wenn Putin sich einfach nicht darauf einlässt – so wie er es zuletzt signalisiert hat? Die russische Regierung hat schon einmal mit der ukrainischen Regierung in Istanbul verhandelt, im März 2022. Ein Waffenstillstand kam nicht zustande. Ich halte ein Angebot für Verhandlungen für realistischer – erst geht es um das Verhandeln zum Waffenstillstand. Ein Frieden ist noch weit entfernt, denn die dem Krieg zugrunde liegenden Konflikte müssen erst und hoffentlich gewaltfrei gelöst werden. Ich denke, dass Putin den Krieg braucht, um sich als Retter der Nation zu inszenieren und um an der Macht zu bleiben. Ein Verhandlungsangebot würde aber den Druck auf ihn erhöhen; darauf müsste er neu reagieren. Vielleicht würde das auch eine Entwicklung im eigenen Land auslösen. Es braucht in dieser Phase den Mut, jede noch so kleine Entwicklung für Friedensverhandlungen zu nutzen – und es wenigstens zu probieren. Frieden ist die Grundlage für alles Weitere.

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