Die 70er: Das Jahrzehnt, in dem Millionäre entführt wurden

Es ist der 14. Dezember 1976, ein kalter Winterabend. Der Millionenerbe Richard Oetker, damals 25 Jahre alt, geht nach einer Vorlesung an der Universität Freising zu seinem Auto. Plötzlich bedroht ihn ein Mann mit einer Pistole. Er fordert Oetker auf, in eine Holzkiste zu krabbeln, die in einem Auto steht. Was Oetker zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß: Diese Entführung wird ihn fast sein Leben kosten. Oetker ist nicht der einzige Millionär, der in den 1970er Jahren Opfer einer Entführung, genauer gesagt erpresserischen Menschenraubs wurde. Im Gegenteil: Theo Albrecht, Wolfgang Gutberlet und Hendrik Snoek sind nur einige weitere Beispiele für Betroffene. All diese Fälle haben eine Gemeinsamkeit: Die Entführer forderten von den Familien der Opfer ein hohes Lösegeld, um sie freizulassen.Wieso hatte das Geld für sie so einen großen Reiz, wie identifizierten die Entführer ihre Opfer und wie reagierte die Bevölkerung auf die Entführungen von Millionären? Mehr Wissen darüber, "wie wenige eigentlich wie viel haben" "Seit den 70er Jahren wissen wir viel mehr über die Vermögenden der Bundesrepublik und deren Vermögensumfang. In den Jahren zuvor war das anders, da gab es kaum statistische Erhebungen oder Zahlen über Vermögensumfang", erklärt Eva Maria Gajek. Sie ist Historikerin und Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe "Geschichte und Theorie des globalen Kapitalismus" an der Justus-Liebig-Universität Gießen.Journalisten berichteten laut Gajek in den 1970er Jahren kritisch über die Vermögen von Unternehmerfamilien und deckten Skandale wie Steuervergehen auf. Dadurch bekamen Menschen "ein besseres Bild darüber, wie das Vermögen verteilt ist und wie wenige Menschen eigentlich wie viel haben". Es wurde über soziale Ungleichheit intensiver diskutiert.Laut Gajek ist Reichtum ein "sehr schwieriger und stark moralisch aufgeladener Begriff". Ein Zweig der Sozialwissenschaft versuche, ihn über Zahlen, das finanzielle Einkommen von Menschen, zu definieren. Sie bevorzuge als Historikerin, nicht nur ökonomische Kategorien einzuschließen, sondern auch "Verhaltensweisen, soziale Netzwerke, Machtstrukturen" zu beachten.Wie viel Geld darf Sicherheit wert sein?Die Wissenschaftlerin teilt die Millionärs-Entführungsopfer der 1970er Jahre in drei Gruppen ein: Prominente Unternehmer, über deren Vermögen in den Medien berichtet wurde (Entführer nutzten zum Beispiel Reichenlisten zur Auswahl ihrer Opfer). Lokale Unternehmerfamilien, zu denen die Entführer eine persönliche Bindung hatten. Und Menschen, deren Wohnort zum Auswahlkriterium wurde: das Villenviertel. Wohlhabende Familien beauftragten in den 1970er Jahren vermehrt Sicherheitsfirmen damit, sie zu schützen. So wurden Kameras auf Grundstücken installiert und Personenschutz in Anspruch genommen. Damit waren die Reichen allerdings nicht alleine, erzählt Eva Maria Gajek, denn auch Politiker schützten sich zu der Zeit verstärkt - gegen Terrorismus. "Wir haben hier also zwei Gruppen, die sich in den 70ern Sicherheit extern einkaufen", beobachtet sie. Einige Politiker bekamen Sicherheit durch Steuergelder vom Staat bezahlt, Vermögende kauften sie sich selbst. "Das warf Fragen auf: Wie viel darf Sicherheit wert sein? Wer ist überhaupt Opfer von Verbrechen? Und trifft es wirklich nur die Reichen, die sich aber selbst schützen können?" Weniger Mitleid mit den EntführungsopfernEs sei auffällig, dass die Bevölkerung bei den Entführungen von Millionären in den 1970er Jahren weniger Mitleid mit den Opfern gezeigt habe, als in Jahren zuvor. Das möge daran gelegen haben, dass bis zu den 70ern vor allem Kinder reicher Familien entführt worden seien, die andere Emotionen als Erwachsene hervorriefen. Auch der Fakt, dass Unternehmerfamilien dazu in der Lage waren, die hohen Lösegelder zu bezahlen, bewegte die Gesellschaft - im Fall Oetker waren es immerhin 21 Millionen D-Mark.Doch auch die Art und Weise, wie Entführer ihre Taten erklärten, spielte laut der Historikerin eine Rolle: "In den 1970er Jahren benutzten die Entführer Begriffe eines sozialen Ausgleichs." Die Entführer von Theo Albrecht etwa formulierten in ihrem Bekennerschreiben, sie seien der "Verein zur Vermögensverteilung". In den 1970er Jahren habe sich laut Gajek der Journalismus "stark hin zum investigativen Journalismus entwickelt, der sehr nah dran sein möchte und exklusive Informationen haben will." Das haben die Entführer genutzt, indem sie bewusst Klischees und persönliche Informationen über ihre Opfer verbreiteten.

Meistgelesen