So werden psychisch kranke Menschen diskriminiert und benachteiligt

Jeder fünfte Deutsche erkrankt im Lauf seines Lebens an Depressionen. Die meisten Frührentner scheiden sogar deshalb aus dem Beruf aus. Und dennoch ist es immer noch ein Tabu, diese oder andere psychische Krankheiten behandeln zu lassen. Mehr noch: In Sachen Karriere, Jobchancen oder Absicherung kann uns das sogar extrem schaden. Denn wer in seiner Krankenakte eine Psychotherapie verzeichnet hat, wird unter Umständen nicht verbeamtet, erhält keine Kranken- oder Berufsunfähigkeitsversicherung und hat zu bestimmten Berufen keinen Zugang mehr. Statt sich also um psychische Probleme zu kümmern, wird Menschen in unserer Gesellschaft systematisch vermittelt, sie besser zu verschweigen. Dieser Umgang beginnt schon im Studium, weiß Ursel Sickendiek von der Studienberatung der Universität Bielefeld. "Das ist ein großes Problem und ein Thema, mit dem sich Studierende der Fächer Lehramt oder Jura sehr oft an uns wenden", sagt sie. "Die kriegen gleich zu Beginn ihres Studiums über Mund-zu-Mund-Propaganda vermittelt, dass eine Verbeamtung nach einer Therapie nicht mehr möglich ist. Und das will natürlich niemand riskieren. Also schleppen schon junge Menschen lieber über Jahre psychische Belastungen und Probleme mit sich herum, die dann später womöglich das ganze Leben beeinträchtigen." Gesundheitliche Eignung wichtiges Kriterium Aber sind die Vorgaben wirklich so rigide? Tatsächlich gilt bei einer Verbeamtung auf Lebenszeit immer noch die gesundheitliche Eignung als Voraussetzung, teilt man bei der Bezirksregierung Detmold auf Anfrage mit. "Es ist die Aufgabe eines Amtsarztes zu beurteilen, ob physische oder psychische Hinderungsgründe vorliegen. Diese wäre der Fall, wenn der/die Kandidat*in seinen dienstlichen Verpflichtungen aufgrund von (Vor-)Erkrankungen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bis zu regulären Pensionierung nachkommen kann oder bis zum Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze über Jahre hinweg regelmäßig ausfallen wird." Eine pauschale Aussage im Voraus sei nicht möglich, da es sich immer um eine Einzelfallentscheidung handle. Allerdings weist der Sprecher auch darauf hin: "Bei psychischen Erkrankungen oder Störungen ist eine frühzeitige Therapie anzuraten." Studentenberaterin Ursel Sickendiek weiß, dass der Ausgang dieser Untersuchungen sehr vom Alter der Amtsärzte abhängen kann. "Das ist eine Generationenfrage. Es gibt solche und solche. Das wissen auch die Studenten - und gehen das Risiko in vielen Fällen lieber gar nicht erst ein." Diese Lösungsstrategien kennt man auch bei der Deutschen Depressionshilfe. Bei der Hilfs-Hotline dort gibt es regelmäßig jede Woche Anfragen zum Thema Depression und Verbeamtung. "Oft kommen die Anrufe von angehenden Lehrer*innen", sagt Sprecherin Heike Friedewald. "Diese weichen dann lieber auf Beratungsstellen oder Online-Tools aus, um sich helfen zu lassen - oder zahlen die Therapie selbst, so dass sie nicht erfasst wird." Knallharte Versicherungsbranche Steht die Behandlung oder die Diagnose erstmal in der Akte, geht es spätestens knallhart zu, sobald Betroffene auf die Versicherungsbranche treffen. Denn hier wird ebenfalls genau berechnet, ob es sich lohnt, den Antragsteller zu versichern. "Ist das Krankheitsrisiko für uns nicht kalkulierbar, lehnen wir im Sinne der Versicherungsgemeinschaft den Antrag ab", teilt beispielsweise ein Sprecher der AXA auf Anfrage mit. "Dies ist ein wichtiger Faktor, auch im Sinne der Beitragsstabilität." Eine pauschale Aussage zu Krankheitsbildern oder Therapien, die zwingend zu einer Ablehnung führen, erhält man auch hier nicht, zu individuell sei jede Überprüfung. Doch wie kommen die Unternehmen überhaupt an die Informationen? Schließlich sind Diagnosen oder Behandlungsdaten intime Informationen und fallen im Sozialdatenschutz unter die "besondere Kategorie personenbezogener Daten". "Deshalb geben die gesetzlichen Krankenkassen diese Daten auch nicht an private Versicherungen weiter, sondern ausschließlich an die Versicherten selbst, die dann über die Verwendung der Daten entscheiden", teilt ein Sprecher der AOK Nordwest auf Anfrage von nw.de mit. "Wir empfehlen unseren Versicherten, genau zu prüfen, welche Daten sie an anfragende Stellen weiterleiten wollen und gleichzeitig zu klären, wie diese Stelle mit den Daten dann weiter verfährt." Das Problem: Sind die Betroffenen auf eine bestimmte Versicherung angewiesen, sitzen die Unternehmen am längeren Hebel. So können sie von Antragstellern jederzeit einen Einblick in die Patientenakten verlangen, um ein Vertragsverhältnis herzustellen. Benedikt Waldherr, Psychologischer Psychotherapeut und Vorsitzender des Bundesverbandes der Vertragspsychotherapeuten (bvvp), kennt das Spiel. "Ich bekomme regelmäßig Anfragen von Unternehmen, in denen mir mitgeteilt wird, dass der Patient mich von der Schweigepflicht entbindet und ich deshalb Auskunft über die Behandlung geben darf und soll - zum vermeintlichen Wohle des Patienten. Vielen von ihnen ist aber gar nicht klar, in was sie da eingewilligt haben - oder Sie haben keine Wahl, weil sie ohne dieses Zugeständnis erst recht keine Chance haben, die Versicherung zu bekommen. Das ist unredlich. Aber so läuft es." Wer nicht mehr kann, ist selber schuld In Waldherrs Augen ein fataler Missstand. "In unserer Gesellschaft hat eine Erkrankung der Psyche immer mit Versagen zu tun, mit Schuld, mit Unzurechnungsfähigkeit. Wer nicht mehr kann, ist selber schuld. Von dieser Stigmatisierung müssen wir weg, hin zu einem offenen Umgang. Denn wir sehen doch, wohin es führt, wenn Menschen ihr Leben lang psychische Probleme verschweigen oder verdrängen, um in die Gesellschaft zu passen." Deutlich, dass sich Probleme dieser Art nicht auf Dauer verdrängen lassen, macht vor allem ein Blick auf die Zahlen der Rentenversicherung: Mit 41,7 Prozent stellten psychische Erkrankungen 2019 den Hauptgrund für ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Berufsleben dar. 1983 waren es nur 8,6 Prozent, damals dominierten vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei den Gründen für Frühverrentung. Laut Deutschland-Barometer der Depressionshilfe, das jährlich Einstellungen und Erfahrungen der Bevölkerung zu dem Thema untersucht, wurde zudem bei jedem fünften Beschäftigten bereits einmal eine Depression diagnostiziert. Klar geht aus der Befragung von über 5.000 Menschen auch hervor: Die Mehrheit spricht am Arbeitsplatz nicht über ihre Erkrankung. Befreiungsschlag durch Bekenntnis Genau gegen diese Tabuisierung geht der gemeinnützige Verein Mutmachleute bereits seit Jahren vor. Hier können sich Menschen offen mit Gesicht und ihrer Krankheit zeigen und so anderen Mut machen. "Und das ist so wichtig", sagt Initiatorin Tina Meffert. "Denn wir sind in Deutschland immer noch an einem Punkt festgefahren: Sobald jemand von seiner Krankheit erzählt, ist das der Anfang vom Ende der Auseinandersetzung mit dem Menschen. Dann geht es nur noch um die Diagnose." Meffert selbst hat eine bipolare Störung und eine Angststörung. "Ich bin aber nicht nur Tina mit diesen Krankheiten. Ich bin berufstätig. Ich bin Mutter. Ich bin Ehefrau. Ich bin Vereinsgründerin. Ich bin politisch aktiv. All das verschwindet aber schnell hinter den Assoziationen oder unzureichenden Informationen, die Menschen haben. Dann bin ich nur noch durchgeknallt, verrückt, nicht zurechnungsfähig, nicht ernstzunehmen." Programme von Bahn und Bundeswehr Durch die Öffentlichkeitsarbeit des Vereins und viele Rückmeldungen der Mutmacher*innen erlebt Meffert oft, wie eine große Last von Menschen abfällt. "Sich offen zu zeigen, ist für viele wie ein Befreiungsschlag. Das führt raus aus Rückzug, Isolation, aus der Scham zurück zur sozialen Teilhabe." Einfach sei der Weg für viele trotzdem nicht. "Das gibt es immer wieder mal, dass sich Freunde, Kollegen oder sogar Familienangehörige abwenden. Da trennt sich die Spreu vom Weizen. Aber sich nicht mehr verstecken zu müssen, Entschuldigungen oder Ausreden für bestimmte Dinge erfinden zu müssen, wiegt für viele Betroffene dabei vieles wieder auf." Auch bei der Deutschen Depressionshilfe ist man sich der Bedeutung des Dialogs bewusst - und bietet deshalb Schulungen für Unternehmen an, in denen Basiswissen über die Krankheit vermittelt wird. "Es ist vor allem wichtig, dass das Umfeld weiß, ob und wie man das Thema ansprechen sollte, Berührungsängste abbaut, eine Stütze sein kann", sagt Heike Friedewald. Zwei der wichtigsten Interessenten im Portfolio: die Deutsche Bahn - und die Bundeswehr. "Das wäre vor 15 Jahren undenkbar gewesen. Und zeigt: Wir stehen zwar noch ziemlich am Anfang - aber es tut sich was."

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