Spaziergang statt Demo: Was steckt hinter der Taktik?

Bielefeld. Aus Demo wird Spaziergang: Regelmäßig kommen hunderte und tausende Menschen zusammen, um gegen die Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Doch die Polizei beobachtet: Immer häufiger sagen die Organisatoren die Demonstrationen in letzter Minute ab. Die Teilnehmer haben sich zu dem Zeitpunkt trotzdem schon auf den Weg gemacht. Als sogenannte "Spaziergänger" ziehen sie dann durch die Straßen und stellen die Polizei vor eine besondere Herausforderung."In letzter Zeit kommt es häufiger vor, dass angemeldete Versammlungen kurzfristig abgesagt oder unmittelbar nach Beginn wieder für beendet erklärt werden", teilt Sarah Siedschlag von der Polizei Bielefeld mit. Die Folge sei, dass es keinen Versammlungsleiter gebe, der während der Versammlung mit der Polizei kooperiere. Eine Koordination des Verlaufs der Menschenansammlung sei dadurch nicht gegeben. Das Ergebnis: Die Polizisten wirken regelrecht übergangen von den "Spaziergängern" und scheinen nicht Herr der Lage zu sein.Umgehung des VersammlungsrechtsDahinter vermuten Konfliktforscherinnen und -forscher eine Taktik. Neu ist die jedoch keinesfalls, weiß Julian Junk, Leiter der Forschungsgruppe Radikalisierung des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. "Die Strategie ist bekannt und durchaus üblich", sagt der Politikwissenschaftler - eine Umgehung des Versammlungsrechts. Doch: "Personen, die sich nach einer Absage einer Versammlung trotzdem zu einer Ansammlung zusammenfinden, genießen nicht mehr den Schutz des im Grundgesetz verankerten Schutzes auf Versammlungsfreiheit", gibt Siedschlag zu bedenken. Sowohl Pflichten als auch Rechte wie besonderer Schutz der Versammlungsleiter und -teilnehmer werden durch die gewählte Vorgehensweise verwirkt.Dass die Organisatoren dabei von "Spaziergängen" reden, ist für Junk ebenfalls Taktik. Der Begriff sei strategisch gewählt und eine klare Verharmlosung. "Spazierengehen ist etwas unpolitisches und eigentlich grundbürgerlich", sagt er. Die Inszenierung werde von den Organisatoren genutzt, um noch nicht radikalisierte Menschen zu fischen. Ähnlich sei es bei den Protesten der Pegida-Bewegung vor einigen Jahren gewesen. "Studien belegen, dass viele Verantwortliche der Corona-Proteste ebenfalls aus dem rechtsradikalen und extremistischen Milieu kommen." Für Junk ist es ein klarer Fall von gezieltem und vermutlich auch erfolgreichem Framing. "Das Wort Spazierengehen wird vereinnahmt, aber es ist und bleibt ein politisches Protestereignis", betont der Politikwissenschaftler. Keine Mehrheit der BevölkerungBesonders besorgniserregend findet Junk die schnelle Mobilisierungsfähigkeit der Organisatoren durch soziale Medien. Das sei für die Polizei die größere Herausforderung als abgesagte Demonstrationen. "Wenn angemeldete Demonstrationen abgesagt werden, weiß die Polizei, dass etwas droht - anders als bei einer Ansammlung, die ausschließlich digital verabredet ist." Das mache es für die Polizei ungleich schwieriger, sagt Junk. Auch wenn nicht außer Acht gelassen werden dürfe, dass es sich zwar um ein deutschlandweit sehr verbreitetes Phänomen handele, aber um zumeist recht kleine Veranstaltungen, hinter denen auch keine Mehrheit der Bevölkerung stünde.In den vergangenen Wochen hatte es Spaziergänge von Gegnern der Corona-Maßnahmen in mehreren Städten in OWL gegeben. Unter anderem in Bielefeld, in Paderborn und in Herford versammelten sich Menschen und zogen durch die Innenstädte. Als offizielle Demonstrationen waren sie nicht angemeldet. In Minden-Lübbecke versammelten sich sogar mehrere "Spaziergänger" vor dem Haus der Landrätin des Kreises. Die Polizei ermittelt nun.

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