Erste Schulschließungen in NRW: Kinderärzte lehnen erneuten Lockdown ab

Düsseldorf/Bielefeld. Mit den steigenden Corona-Inzidenzwerten werden die Rufe nach erneuten Schul- und Kitaschließungen lauter. Als erster Kreis in NRW schließt der Kreis Düren ab Montag erneut die weiterführenden Schulen, mit Erlaubnis der Landesregierung. Viele weitere Kommunen wollen dem Beispiel folgen. Die Kinderärzte in NRW warnen jedoch vor einem erneuten Lockdown für Kinder, um ihre Gesundheit und Entwicklung nicht weiter zu gefährden. &bdquo;Wenn von einzelnen Kitas oder Schulen Gefährdungen ausgehen, können Schließungen sinnvoll sein. Wenn Schließungen jedoch wieder die erste und einzige Reaktion auf steigende Inzidenzen ist, dann ist das ein fundamentaler Angriff auf die Lebenssituation von von Kindern", erklärt Kinderarzt Marcus Heidemann. Der Bielefelder behandelt in seiner Praxis zunehmend Patienten, die unter seelischen Störungen und Entwicklungsdefiziten leiden. Immer mehr Mädchen leiden unter Essstörungen Das gleiche Bild zeigt sich in den Kinderschutzambulanzen. &bdquo;Ich habe noch nie so viele Mädchen mit Essstörungen gesehen wie in den vergangenen Monaten", sagt Sabine Lensches, Oberärztin in der Kinderschutzambulanz am Evangelischen Krankenhaus Lippstadt. "Viele Kinder haben stark zugenommen, weil die Bewegung fehlt, darunter leiden natürlich vor allem Ältere. Und wir sehen viele somatische Leiden wie Bauch- oder Kopfschmerzen. Die Kinder sorgen sich." Die Zahl der bislang wegen Misshandlung behandelter Kinder seit Beginn des Jahres ist bislang vergleichbar mit denen vorheriger Jahre. &bdquo;Über einen Anstieg von Misshandlungen können wir aber auch noch gar nichts sagen, weil die Kinder ja gerade alle erst wieder ohne Einschränkungen in die Einrichtungen kommen dürfen", sagt Lensches. &bdquo;Lehrer und Erzieher fangen ja gerade erst an, sich einen Überblick zu verschaffen. Das jetzt wieder abzubrechen, wäre fatal." Kinder schweigen oft, sodass Missbrauch unentdeckt bleibt Lensches sorgt sich wegen der Dunkelziffer: &bdquo;Selbst wenn wir hier nicht mehr Patienten mit Misshandlungen verzeichnen sollten, heißt das nicht, dass sie nicht stattfinden – oder im Lockdown regelmäßig stattgefunden haben." Blutergüsse verheilen, alte Brüche sind oft nur noch per Röntgen zu erkennen. Und Lensches weiß: Kinder schweigen oft eisern. &bdquo;Die sagen, wenn überhaupt, genau einmal etwas und dann nie wieder." Sei dann niemand in der Nähe, der genau zuhöre, sei die Chance für immer vertan. &bdquo;Und das sind eben oftmals Erzieher, Lehrer oder Bezugspersonen in Sportvereinen – all jene, die in den Schließungen keinen Kontakt zu den Kindern haben." Problematisch sind nach Einschätzung Heidemanns zunehmend auch Entwicklungsdefizite. &bdquo;Die Zahl der Kinder mit Defiziten wächst, und je länger die Krise dauert, desto schwerer können Betroffene diese Defizite wieder ausgleichen", mahnt der Pädiater. &bdquo;Doch obwohl die Pandemie nun bereits ein Jahr andauert, werden Kinder weiterhin nur als Infektionsquellen gesehen." Dabei sind Kitas und Schulen laut Heidemann elementare Bestandteile der Lebenswirklichkeit, der Lebensqualität und der sozialen Teilhabe einer ganzen Generation. &bdquo;Mit jeder Schließung verlieren Kinder fast alle Kontakte zu Mitschülern, obwohl ihre Entwicklung den Austausch dringend erfordert." Kinderärzte stellen sechs Forderungen an die Politik in NRW Als Vorsitzender des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte in Westfalen-Lippe hat sich Heidemann mit seinen Kollegen formiert. Die Kinderärzte stellen sechs Forderungen an die Politik: 1. Kita- und Schulschließungen müssen das letzte Mittel sein. &bdquo;Gezielte Eingriffe können sinnvoll sein, nicht jedoch flächendeckende Schließungen als Inzidenzwertsteuerung", erklärt Heidemann. 2. Konsequente Öffnungspolitik statt radikaler Schließungspolitik. &bdquo;Die Verantwortung der Politik, zu wenig geschlossen zu haben und hierdurch die Pandemie befeuert zu haben, darf nicht leichtfertig zu Lasten der nachfolgenden Generationen gehen." 3. Ganzheitliche Konzepte, um Bildung und Entwicklung von Kindern auch während der Pandemie maximal zu fördern. &bdquo;Die Politik reagiert innerhalb kürzester Zeit auf Hilferufe aus der Wirtschaft und ermöglicht Risikobereichen wie Schlachthöfen mit konsequenten Sicherheitsstrategie die Wiedereröffnung. In Schulen heißt es zum Schutz lediglich: Fenster öffnen." 4. Kinder nicht länger zu Verzicht verdonnern. &bdquo;Das Leben und die Gesundheit von Risikogruppen können niemals mit anderen Dingen abgewogen werden. Die Entwicklung und die Zukunft unserer Kinder als gleichrangiges Ziel aber auch nicht", sagt Heidemann. &bdquo;Da mittlerweile Impfungen verfügbar und Risikogruppen zunehmend geschützt sind, ist ein pauschales Vernachlässigen von Kinderrechten nicht mehr zu rechtfertigen." 5. Kindern wieder einen individuell geförderten Lern- und Bildungsweg ermöglichen. &bdquo;Die Spannbreite, wie Kinder die Lockdowns überstanden haben, ist immens. Deshalb brauchen Erzieher und Lehrer Konzepte und Mittel, um Defizite bei Kindern mit individueller Förderung wieder ausgleichen zu können." 6. Jugendliche impfen. &bdquo;Der Biontech/Pfizer-Impfstoff ist auch für Jugendliche ab 16 Jahren zugelassen. Da sie in dieser Phase oft vor wegweisenden Prüfungen stehen, dürfen sie nicht länger ignoriert werden, während die Betriebsärzte in Unternehmen wie Bertelsmann bereits Impfungen vorbereiten."

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