Sind Virus-Mutationen gefährlicher? Bielefelder Mikrobiologe klärt auf

Bielefeld. Eine nochmalige Verlängerung des Corona-Shutdowns gilt als wahrscheinlich. Letztlich entschieden wird darüber am Mittwoch beim Bund-Länder-Gipfel. Die Hauptargumentation zugunsten einer Fortsetzung um mindestens einige Wochen ist bei stark sinkenden Infektionszahlen nun auf die Virusmutationen gerichtet. Und auf die Annahme, dass diese ansteckender sein könnten oder zu schwereren Verläufen führen. Was ist dran an diesem Szenario? Der Mikrobiologe Jörn Kalinowski, Professor und Forscher am Center for Biotechnology (CeBiTec) der Universität Bielefeld, sequenziert seit März 2020 Coronaviren. Das heißt, am CeBiTec wird seit fast einem Jahr die Entschlüsselung des Virus-Erbguts mittels leistungsstarker Technologie vorgenommen. Sie hilft, die Dynamik der Pandemie besser zu verstehen. Kalinowski und sein Team haben die Entwicklung des Virus und dessen Mutationen sozusagen in Echtzeit verfolgt. Was sagt der Experte zu der Gefährlichkeit von Mutationen? Was ist vom eindringlichen Alarmschlagen medienaffiner Wissenschaftler zu halten? Und wie ist der natürliche Verlauf einer Pandemie? Normalzustand Mutation&bdquo;Mutationen sind normale Vorgänge, da Viren als lebendige Systeme der Evolution unterworfen sind. Deshalb nehmen sie immer wieder Anpassungsleistungen vor, um sich weiter verbreiten zu können". Kalinowskis Gruppe hatte schon zu Pandemiebeginn neue Sequenziermethoden genutzt, die dem &bdquo;wissenschaftlichen Kräutergärtlein" mittels schnellerer, effektiverer Verfahren einen Schub geben. Stark verbreitete Viren erlangen evolutionsbedingt einen &bdquo;Fitnessgewinn", sagt er. Halte man den Reproduktionswert (R-Wert) unter 1, stünden die Chancen gut, die Mutanten im Griff zu behalten. GefährlichkeitPer se seien die Mutationen nicht gefährlicher, doch die Situation könne entgleiten, wenn zu viele Ansteckungen erfolgten. Andere Experten warnen jedoch, dass sich auch ein langer Shutdown als wahre Brutstätte besonders widerspenstiger Mutationen erweisen kann. Was zu tun ist, ist ein Abwägungsprozess. Letztlich ist die Wissenschaft eine Seite, die politische Verantwortlichkeit die andere. Die Entscheider müssen auch die Nebeneffekte nicht-pharmakologischer Interventionen gegenrechnen. Das sei nicht die Sache der Virologen und Epidemiologen, weist Kalinowski eine politische Aussage zurück. Modellieren, wenn Daten fehlenDas Erstellen von Modellen, sogenanntes Modellieren verschiedener Szenarien, ist für Kalinowski ein Notnagel, wenn verlässliche Daten fehlen. &bdquo;Wir wissen immer noch viel zu wenig, etwa wie Ansteckungsketten genau verlaufen." Auch welche Bereiche wirklich Treiber der Pandemie sind, bleibt umstritten. Sind es wirklich Schulen und Kitas, die man nun schon so lange geschlossen hält? Die Studienlage ist widersprüchlich. &bdquo;Modelle sind hilfreich, so lange wir nicht viel mehr sequenzieren", ist der Wissenschaftler überzeugt. Ob etwa die britische Mutante einen schwereren Verlauf befördert, sei überhaupt nicht klar. Die vorliegenden Studien zeigten das nicht. Wissenschaftler als MitentscheiderVon dieser Rolle distanziert sich Kalinowski. In Talkshows und ähnlichen massenmedialen Formaten würden Wissenschaftler genötigt, politische Einschätzungen zu geben. Dabei zählt in konkurrierenden Medien häufig das Gebot der Skandalisierung. Dringt also im Konzert der Deutungshoheiten desjenige am besten durch, der das lauteste Megafon hat? &bdquo;Wissenschaft ist weit entfernt von absoluten Aussagen", sagt Jörn Kalinowski dazu. Er findet, dass die öffentliche Vermittlung von Expertenwissen in der Corona-Krise &bdquo;ein Problem" bleibe. Manche Zuspitzungen entstehen aber auch aufgrund fehlerhafter Übermittlung: So verbreiteten Teile der deutschen Presse, die britische Virusmutante sei 50 Mal ansteckender als die ursprüngliche. Richtig ist: Vermutet wurde anfangs, sie sei um 50 bis 70 Prozent ansteckender, inzwischen korrigiert auf 20-35 Prozent. Die ImpfstoffeDer CeBiTec-Wissenschaftler ist nach eigenen Worten &bdquo;glücklich, dass gerade die mRNA-Impfstoffe jetzt auf den Markt kommen", was ansonsten sicher noch Jahre gedauert hätte, da sie &bdquo;keine kommerziellen Treiber" seien. &bdquo;Sie sind extrem schnell zu entwickeln und bei Bedarf umzubauen", so Kalinowski, der begeistert ist von dieser &bdquo;Impfstoffentwicklung im Zeitraffer". Perspektivisch erwartet er eine Zulassung des Astrazeneca-Impfstoffes auch für Senioren in einigen Monaten, da der Hersteller Studienergebnisse für über 65-Jährige wohl nachreiche. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werde sich die Verfügbarkeit von Impfstoffen stark beschleunigen. Auch den russischen Impfstoff &bdquo;Sputnik V" hält er für &bdquo;akzeptabel". &bdquo;Wir werden Mitte des Jahre genügend Impfstoffe haben", macht er Mut. Aber wir müssten dann auch dafür sorgen, dass die Welt geimpft sei. Deutschland sei keine Insel, sondern ein Durchreiseland. Bis dahin, empfiehlt er, müsse die Zahl der Sequenzierungen deutlich steigen, auch um schnell und preiswert weitere Mutationen aufzuspüren und dem Geschehen nicht weiter hinterherlaufen zu müssen. Hoffnungsvoller AusblickWenn viel geimpft wird, heißt es, werden sich weitere Mutationen bilden und verbreiten. Das bedeute aber nicht, so der Experte, &bdquo;dass die Leute wieder so krank werden". Es sei davon auszugehen, dass die Menschen durch Impfung und überstandene Infektion einen Basisschutz erhielten, SARS-CoV-2 dann endemisch werde. Das heißt, die Viren könnten sich abschwächen und sich wie saisonale Coronaviren verhalten. Am Ende könnte das bedeuten, dass etwa nur noch die oberen Luftwege befallen werden, was die Menschen gut bewältigen können. Der Tiger würde schließlich irgendwann als Bettvorleger landen.

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