Der Missbrauch in der Nachbarschaft: "Sie muss es gewusst haben"

Münster. Das katholische Münster, die fromme Großstadt voller Kirchen und Klöster, die lebenswerte Universitätsstadt mit den blasierten Professoren und 60.000 strebsamen Studenten, der konservative Hort wohlhabender Kaufleute und dünkelhafter Honoratioren – dieses Klischeebild ist vom Stadtteil Kinderhaus einige Kilometer entfernt. Selbst die Münsteraner kennen Kinderhaus oft kaum und denken nur an die "Schleife" mit ihren schieferverkleideten Wohnsilos aus den 60er und 70er Jahren. Der "Missbrauchsfall Münster", wie er nun schnöde bundesweit heißt, hat sich aber weder im Schatten der Glockentürme noch im Herzen des als "sozialer Brennpunkt" verrufenen Hochhausviertels ereignet. Sondern an Orten mit großer sozialer Kontrolle. Kinderhaus: der Name des Stadtteils geht auf ein mittelalterliches Haus für Aussätzige zurück, die mehr als fünf Kilometer vor den Toren der Stadt angesiedelten "armen Kinder Gottes". Im Westen gibt es heute das edle Hotel Schloss Wilkinghege, den gleichnamigen Golfplatz und schicke Unternehmervillen. Auf der anderen Seite der dicht bewohnten "Nord-West-Schleife" leben Durchschnittsbürger in Mehrfamilienhäusern, Reihenhäusern und Bungalows. Lauschige Kleingartenanlage "Am Bergbusch" Viele von ihnen lieben es, an Wochenenden oder nach langen Arbeitstagen ein paar Stunden in der Kleingartenanlage "Am Bergbusch" oder der benachbarten Anlage "Heidegrund" zu verbringen. Der eine hegt Mohrrüben und Rhabarber, der andere Sonnenblumen und Stauden. Es ist gut gepflegt und lauschig hier. Spießig? Nicht unbedingt. Ein Rentner lässt mich ins Innere seiner Laube blicken. Rechts eine Werkbank, links ein voll ausgestattetes Schlagzeug. Es ist eng in den einheitlichen, keine 15 Quadratmeter großen Häuschen. "Ich bin fast jeden Tag hier, hier kann ich laut Musik machen", sagt der 69-Jährige. "Mein 13-jähriger Sohn hat in dieser Anlage auch schon Abende und Nächte mit Freunden verbracht", sagt eine Lehrerin. Hauptverdächtiger hat Anlage mit WLAN ausgerüstet Kinderhaus ist wie ein Dorf: Jeder scheint jemanden zu kennen, der mit dem Fall zu tun hat. Den 27-jährigen Hauptverdächtigen, einen IT-Experten, der für die Technik eines Bauernhofs bei Dülmen verantwortlich gewesen sein soll, zum Beispiel. Er hat die komplette Kleingartenanlage, in dem sich der unvorstellbare sexuelle Missbrauch zugetragen hat – zuletzt im April 2020 die stundenlange Vergewaltigung von zwei 5- und 10 Jahre jungen Kindern durch vier erwachsene Männer – mit WLAN ausgerüstet. "Brauchte er das WLAN, um die Videos zu übertragen?", wird nun geraunt. Ja, er heißt A. V. und er wohnte bis vor einiger Zeit in dieser Straße. "Mein Freund hat auch schon mal mit ihm gegrillt", ist zu erfahren. Seine 45-jährige Mutter C., die der Beihilfe verdächtigt wird und ebenfalls in U-Haft sitzt, wohnt im gleichen Block in einem anderen Haus. Die Oma lebt auch dort - im gleichen Haus wie A.V. früher. Die bisher nicht inhaftierte Lebensgefährtin S. (30) aber, die Mutter des missbrauchten Jungen, wohnt ein paar Straßen weiter. "Sie muss es gewusst haben", glauben die Kinderhauser. Scheinbar alle glauben das. Schockiert über die Wahrheit Und alle sind schockiert über die zutage geförderte Wahrheit. Wobei die Details noch ermittelt werden: Am Mittwoch in der Mittagszeit kommt ein Datenspürhund der NRW-Polizei in Münster zum Einsatz, er schnüffelt in einer der Wohnungen nach CDs, DVDs oder USB-Sticks. Im Missbrauchsfall von Lügde hatte ein aus Sachsen angeforderter Spürhund noch Datenträger in der Sofaritze erschnüffelt, als alle die Suche längst für abgeschlossen hielten. Danach – im Herbst 2019 – rüstete auch NRW mit fünf eigenen dieser talentierten Tiere auf. Tränen in den Augen hat eine 66-jährige Kleingärtnerin, die sich in ihrem Paradies nun nicht mehr wohlfühlen mag: "Es ist etwas anderes, ob man von einem Verbrechen in der Zeitung liest, oder ob es sich keine 50 Meter entfernt zugetragen hat." Sie kannte den missbrauchten Zehnjährigen, der Enkel ihrer Schwester hat mit ihm gespielt. Aber auch sie hat nichts geahnt. Ebenso wenig wie der 14-Jährige, der mit dem Zehnjährigen befreundet war und der sagt: "In deren Wohnzimmer standen Kameras und Computer. Aber da durften wir nicht bleiben..." Als 17-Jähriger Kinderpornos verbreitet Doch man hätte es ahnen können. Die Behörden wussten seit mehr als fünf Jahren von A.V.s Neigungen. Schon als 17-Jähriger hatte er begonnen, Kinderpornos zu verbreiten, 2016 wurde er erstmals auf Bewährung verurteilt, 2017 ein zweites Mal. Noch vor kurzem ist er auch wegen Stromdiebstahls mit der Justiz im Konflikt geraten. Wofür brauchte er so viel Strom? Insgesamt gibt es im "Missbrauchsfall Münster" bisher elf Tatverdächtige aus halb Deutschland, sieben sitzen in U-Haft. Doch die Fragen der Kinderhauser drehen sich um die Beteiligten aus ihrer Nachbarschaft: Wie konnte es sein, dass dieser 27-Jährige, der Bilder und Videos von vergewaltigten Kindern selbst produzierte und im Darknet verbreitete, mit einem Jungen zusammenleben und ihn quälen konnte, obwohl er Behörden und Justiz so bekannt war?

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