Spanische Grippe: Bielefelder Mediziner warnt, Fehler zu wiederholen

Bielefeld. Die Spanische Grippe tötet Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu 50 Millionen Menschen und damit mehr als der Erste Weltkrieg. In der Wissenschaft gilt die Spanische Grippe als Prototyp einer Pandemie. Ein Blick auf die Ereignisse vor 100 Jahren lohnt sich, denn aus dem Umgang mit der Spanischen Grippe lassen sich Lehren für die aktuelle Corona-Pandemie ziehen. Der Bielefelder Historiker und Mediziner Wilfried Witte warnt davor, Fehler von damals zu wiederholen. &bdquo;Die Kommunikation ist im Umgang mit Pandemien von zentraler Bedeutung", erklärt Witte, der im Evangelischen Klinikum Bethel als Schmerztherapeut und an der Charité Berlin als Gastwissenschaftler tätig ist. &bdquo;Entscheidend ist, dass der Ausbruch ernst genommen wird. Diese Forderung mag banal klingen, doch selbstverständlich ist sie nicht, wie der Umgang des Deutschen Reichs mit der Spanischen Grippe gezeigt hat. Vor 100 Jahren wurden die Bürger sich selbst überlassen." "Demokratische Staaten müssen transparent kommunizieren" Der Umgang der Politik und der Medizin mit der Spanischen Grippe machen laut Witte deutlich, wie wichtig koordiniertes Vorgehen und öffentliche Kommunikation im Umgang mit einer Pandemie sind. &bdquo;Zudem müssen getroffene Maßnahmen und errungenes Wissen stetig überprüft und infrage gestellt werden. Diese Lehren können wir aus der Zeit der Spanischen Grippe ziehen", sagt Witte. Das gelte insbesondere für Maßnahmen, die die Grundrechte von Bürgern beschneiden. &bdquo;Wenn demokratische Staaten die Bevölkerung für Maßnahmen wie eine Kontaktsperre gewinnen wollen, dann müssen sie transparent kommunizieren und deutlich machen, dass diese Einschränkungen auch wieder aufgehoben werden." Wichtig ist laut Witte aber ebenso die Steuerung von Kommunikation. &bdquo;Jede Pandemie bedingt auch eine Epidemie der Angst, das ist unausweichlich und sollte ebenso wie die Ausbreitung des Virus begrenzt werden." Deshalb müssen Entscheider auch beim Umgang mit Wahrscheinlichkeiten deutlich machen, dass es sich nicht um Fakten handelt. &bdquo;Niemand weiß was kommt, deshalb stört es mich, wenn das im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten behauptet wird. Wir wissen seit 1918, dass Grippe-Pandemien in Wellen verlaufen, daraus können wir aber nicht mit Gewissheit ableiten, was das Coronavirus noch bringt." Die Spanische Grippe begann als gewöhnliche Influenza Die Ausbreitung der Spanischen Grippe begann 1918 zwar als gewöhnliche Influenza, veränderte sich jedoch schnell. &bdquo;Die erste Ansteckungswelle verlief vergleichsweise harmlos. Es erkrankten zwar viele Menschen, die dann an Schüttelfrost und Fieber litten, aber nur wenige starben", erklärt Witte, der zur Grippegeschichte geforscht hat. Im Herbst folgte dann eine zweite, tödliche Welle, die sich vor allem dort entfaltete, wo viele Menschen zusammenkamen. Unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges entwickelten sich laut Witte damals wesentlich mehr Hotspots als heute. &bdquo;In Rekruten- oder Kriegsgefangenenlagern steckten sich auf einen Schlag viele Menschen an und verstarben häufig an akutem Lungenversagen." Therapien wie die invasive Beatmung, die Ärzte heute bei schwer kranken Covid-19-Patienten einsetzen, standen Ärzten damals noch nicht zur Verfügung. Die Spanische Grippe raffte auch viele junge, kräftige Menschen dahin Im Gegensatz zur Corona-Pandemie, der vor allem sehr alte Menschen zum Opfer fallen, raffte die Spanische Grippe sehr viele 20- bis 40-Jährige dahin. &bdquo;Die gängige Theorie besagt, dass das Virus eine Überreaktion des Immunsystems auslöste und deshalb so viele Menschen mit einem widerstandsfähigen Immunsystem starben." Doch trotz hoher Mortalität, in Deutschland gab es mehr als 300.000 Todesfälle, wurde die Seuche von übergeordneter Stelle nicht ernst genommen. &bdquo;1920 gab es einen Abschlussbericht über die Folgen, der ungefähr 20 Seiten umfasste und der die zweite Welle der Pandemie im Wesentlichen ausklammerte." Zudem fehlte laut Witte zwischen 1918 und 1920 koordiniertes Vorgehen von übergeordneter Stelle. Schulen und Theater wurden lediglich punktuell geschlossen und auch Maßnahmen wie die Isolation von Erkrankten wurden nicht flächendeckend umgesetzt. Abstand halten wurde gar nicht thematisiert. &bdquo;Stattdessen wurden die Seuche und ihre verheerenden Folgen ignoriert, obwohl auch damals mehr zum Schutz der Bürger möglich gewesen wäre." "Die Medizin erlebte die Pandemie als Niederlage" Problematisch war laut Witte auch der Umgang der Medizin mit der Seuche. &bdquo;Die Medizin erlebte die Pandemie als große Niederlage, weil die Bakteriologie davon ausging, das Wesen aller Erreger aufzudecken und bald über alle nötigen Gegenmittel zu verfügen. Doch dann überfiel die Spanische Grippe die Menschheit." Seit 1892 galt ein Grippe-Bakterium als Verursacher der Spanischen Grippe. &bdquo;Trotz erheblicher Zweifel hielt das Deutsche Reich lange an der Theorie fest." Viele offene Fragen gibt es aktuell auch zum Coronavirus. Fest steht laut Witte aber bereits, dass die Pandemie nicht die letzte sein wird. &bdquo;1957/58 erfasste die Asiatische Grippe die Welt und 1968 bis 1970 die Hongkong-Grippe, beide in geringerem Ausmaß. Dass es zu einer neuen Pandemie, wie die Schweinegrippe 2009/10, kommen würde, war zu erwarten."

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