Toilettenpapier - das unerreichbare Gut

Bielefeld. Es ist zwanzig nach acht am Dienstagmorgen. Gleich öffnet der Drogeriemarkt um die Ecke. Ich steuere ihn an, weil ich am Abend zuvor in vier Supermärkten vergeblich versucht habe, einen in diesen Tagen besonders wertvollen Artikel zu bekommen: Toilettenpapier. Kurz vor dem Ziel schwant mir nichts Gutes: Menschen stehen bis auf die Straße vor dem Eingang der Filiale. Etwa 30 Männer und Frauen haben sich verrammelt. Viele schauen nervös drein, schauen zur Erde, gehen auf Abstand. Aus hygienischen Gründen in diesen Tagen der Corona-Krise nicht verkehrt. Doch dann schießt mir durch den Kopf: Die wollen doch nicht etwa alle das Gleiche wie ich? "Ich will doch nur eine Tube Zahnpasta" Ein junger Mann vor mir in der Schlange schüttelt den Kopf. "Ich will doch nur eine Tube Zahnpasta", sagt er. Verstehen kann er den Auflauf nicht. Dann öffnet sich die Tür. Binnen weniger Sekunden ergießt sich die Kundenschar in die Filiale. Ich brauche nur der Karawane zu folgen. Denn 95 Prozent der Kundinnen und Kunden gehen genau an einen Ort: das Regal mit dem Toilettenpapier. Eine Kassiererin bringt derweil einen Zettel an der Kasse an, auf dem die Kunden gebeten werden, nur zwei Packungen Toilettenpapier pro Person zu kaufen. "Hoffentlich halten sich alle daran", sagt sie lachend. Den Gegenbeweis erbringt zwei Sekunden später eine Dame um die 60. Gleich sechs Großpakete mit dem raren Produkt hat sie unter den Armen und kann die Last ob ihres Volumens kaum tragen. "Die Situation in den Läden zwingt mich dazu" Als andere Kunden sie auf den Appell des Drogeriemarktes ansprechen, sagt sie nur: "Ich habe doch eine große Familie." Kopfschütteln ist die Antwort der Umstehenden. Einige äußern sich verständnislos über den Ansturm auf das Hygieneprodukt. "Ich wollte das eigentlich gar nicht machen", sagt eine Kundin neben mir. "Aber die Situation in den Läden zwingt mich dazu." Sie habe nur noch eine einzige Rolle Toilettenpapier zuhause. Sie müsse jetzt was einkaufen, sagt sie und nimmt die zwei 8er-Packungen aus dem Regal. Dieses leert sich in Sekundenschnelle. Die Verkäuferinnen lachen, doch ein heiteres Lachen ist es nicht. Auch sie verstehen die Welt nicht mehr und stehen schon mit drei weiteren Rollpaletten parat, von denen ihnen die Rollen direkt aus den Händen gerissen werden. "Es fühlt sich gerade nicht richtig an" Ich nehme noch zwei Packungen aus dem Regal, weil auch ich die gleichen Erfahrungen gemacht habe wie die Kundin vorhin. Doch während ich die Packungen in der Hand habe und in der Schlange an der Kasse stehe, denke ich: "Es fühlt sich gerade nicht richtig an, was ich hier tue." Doch natürlich stelle auch ich die Packungen nicht wieder zurück. Die künstlich erzeugte Knappheit drängt mich dazu, den Kauf nun abzuschließen. Dann ist es geschafft. Ich bin wieder an der frischen Luft. Die kann ich jetzt auch gebrauchen. Denn während der Wartezeit an der Kasse erzählt mir die Kundin vor mir, dass sie gestern in einem Lebensmittelmarkt schon eine Beinaheprügelei erlebt habe. Eine Kassiererin habe einen Kunden auf die Höchstabgabemenge für Mehl pro Kunde hingewiesen. Doch dieser habe sich nicht daran halten wollen. Die Kassiererin habe letztlich sogar mit einem Ruf der Polizei gedroht. In diesem Moment fährt es mir durch den Kopf: Was machen in diesen Tagen alleinstehende Senioren, die womöglich nicht gut zu Fuß sind und niemanden haben, der ihnen die notwendigen Produkte ins Haus bringt? Diese können nicht, wie ich, drei bis vier Supermärkte abklappern, bis sie an das so begehrte Toilettenpapier kommen.Das Ende vom Lied: Meine Stimmung ist im Keller und es erfasst mich eine Gemütslage, die ich vor der Corona-Krise nie für möglich gehalten hätte: eine tief empfundene Toilettenpapier-Scham. Wenn ich herauskriege, wo in meiner Nähe jemand wohnt, der in diesen Tagen große Probleme hat, seine Einkäufe persönlich zu erledigen, werde ich diesem Menschen eine Packung vor die Wohnungstür stellen. Versprochen!

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