Grünen-Kandidat Giegold: Vom Tümpel nach Brüssel

Hannover. Erst ringt man mit dem Stacheldraht, dann mit dem Gestrüpp, bis der Teich endlich vor einem liegt. Es ist Mitte April, noch zu früh für den Laich der Laubfrösche, das Ufer wirkt ausgetrocknet. Sven Giegold aber freut sich über den &bdquo;Ausflug in die Vergangenheit"; nach langer Zeit steht er wieder an dem Biotop, das er in seiner Jugend regelmäßig aufgesucht hat. &bdquo;Ich habe eine tiefe Beziehung zur Natur", sagt er am Benther Berg, kurz vor Hannover. &bdquo;Sie ist mein zweites Fundament neben dem Glauben." Giegold führt die Grünen gemeinsam mit Ska Keller zur Europawahl Ende Mai. Keller hat es beim Parteitag in Leipzig auf 87,6 Prozent gebracht, er auf ein Wahnsinnsergebnis von fast 98 Prozent. Giegold traf den richtigen Ton, überzeugte die Grünen mit einem kolossalen Auftritt. &bdquo;Klar bin ich darauf stolz", sagt er. Als Quereinsteiger habe er ja nun einmal &bdquo;keine Hausmacht in der Partei". Konsequenzen des Glaubens Politisch geprägt wurde Giegold in der Umweltbewegung der 1980er-Jahre. Er war der Anführer der Ökofraktion in der Schule, mit Sandalen und Schafwollpullover. Mit der Arbeitsgruppe &bdquo;Tümpel und Lurche" des BUND Hannover ging es auf dem Fahrrad raus in die Region, &bdquo;den Geist des Waldes spüren". Den Führerschein hat er bis heute nicht gemacht. Giegold wird wie Keller den linken Grünen zugerechnet. Man sagt ihm ein tiefes Gerechtigkeitsempfinden nach. 1983 in der Epiphanias-Gemeinde konfirmiert, engagiert er sich später für den Evangelischen Kirchentag. Aus dem christlichen Glauben ergeben sich für ihn politische Konsequenzen. Man kann das erleben, wenn er als Sprecher der deutschen Grünen im EU-Parlament routiniert vor Kameras steht und Steuerbetrug anprangert oder die ungezügelten Finanzmärkte. Zu Giegolds Zöglingen gehört Felix Banaszak, der Vorsitzende der Grünen in NRW. Banaszak hat das Europabüro des sendungsbewussten Politikers geleitet, den riesigen E-Mail-Verteiler mit den 100.000 Adressen auf Stand gehalten. Wie ist er so als Chef? Da fällt Banaszak zuerst das &bdquo;protestantische Arbeitsethos" ein. &bdquo;Er ist ein Workaholic – er verlangt sich und seinem Team viel ab, bleibt dabei aber fair." Ein seltener Moment der Privatheit Mittlerweile hält Giegold streng geregelte Zeiten frei für seine Frau, eine Ärztin, und die beiden Söhne. In Leipzig hat er über den kleineren gesprochen, der unter porösen Kreidezähnen leidet, mutmaßlich hervorgerufen durch Chemikalien. Giegold wolle sich &bdquo;mit der Chemielobby anlegen, damit die giftigen Chemikalien endlich aus dem Alltag verschwinden", versprach er. Das sei er seinem Sohn schuldig. Es war ein seltener Moment der Privatheit. &bdquo;Mich hat das überrascht", sagt Banaszak. Eigentlich halte Giegold seine Familie heraus aus der Politik. Der Grünen-Kandidat ist eines sicher nicht: eine Rampensau. Das hat man beim Politischen Aschermittwoch in Köln gesehen, als er mal richtig auf den Putz hauen sollte. Wobei, die Erwartungen hatten sie vorher schon tief gehängt. &bdquo;Ich komme aus Hannover", sagte er zum Einstieg und referierte über Kapitalmärkte, Klimaschutz und Kinderdemonstrationen. In der Jugend wollte er Chemiker werden. Aufgewachsen ist er in einer Arbeiterfamilie, die Mutter Fotolaborantin, der &bdquo;soziale Vater" Maschinenschlosser. Er erkenne sich wieder bei den Protesten &bdquo;Fridays for Future", sagt Giegold, geboren 1969 auf Gran Canaria. Er habe selbst nicht selten in der Schule gefehlt, um Teiche anzulegen oder Krötenzäune. Das Abitur schloss er dann mit der Note 1,6 ab. Einigen geht er gehörig auf die Nerven Giegold ist ein Mann der Fakten. Manchmal hat er dabei etwas Oberlehrerhaftes. Selbst auf lockere Fragen reagiere er stets sachlich, &bdquo;im näselnden Tonfall eines Schalterbeamten", wurde ihm einmal in der taz bescheinigt. Roland Süß gehört wie Giegold zu den Gründungsmitgliedern des globalisierungskritischen Netwerks Attac Deutschland. Er erinnert sich an &bdquo;harte Auseinandersetzungen". Giegold handle strikt nach seiner Weltanschauung. Giegold ist seit zehn Jahren Berufspolitiker, 2009 zog er zum ersten Mal ins Europaparlament ein. Man respektiert ihn, doch es mögen ihn sicher nicht alle bei den Grünen. Einigen geht er sogar gehörig auf die Nerven mit seiner Penetranz und seinem Hang zur Perfektion. Er hat sich eine gewisse Distanz bewahrt zum Parteibetrieb, in dem häufig irgendwelche Gremien befragt werden müssen, bis eine Entscheidung steht. Telefonkonferenz am Tümpel. Über dem Benther Berg kreist ein Mäusebussard. Die Grünen-Chefs Robert Habeck und Annalena Baerbock haben sich zugeschaltet, die Kandidatin Keller und der Politische Geschäftsführer Michael Kellner. Was hält Giegold von Habeck und Baerbock? &bdquo;Sie haben ein riesiges Vertrauenskapital", sagt er, &bdquo;das müssen sie jetzt nutzen." In der Schalte geht es um die Schlussbotschaft für den Endspurt zur Europawahl, den finalen Aufruf zur Stimmabgabe. Giegold, der Perfektionist, hadert mit der Gestaltung. Er hätte statt eines Buchfinks lieber einen Vogel auf dem Plakat, der tatsächlich auf dem Rückzug sei. Dazu dringt der Kandidat auf eine kurze, klare Klimaansage. Man ist geteilter Meinung.

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