Themenwoche: Der Heimat-Begriff in der Wissenschaft

Bielefeld. Der Heimat-Begriff hat eine ungeheure Renaissance erlebt. Von den Rändern des kollektiven Bewusstseins ist er innerhalb weniger Jahre in dessen Zentrum vorgedrungen. Die Diskussion um den Begriff ist mittlerweile so weit verzweigt, dass er sich jeder eindeutigen Definition entzieht. Der Bielefelder Wissenschaftler Hamid Tafazoli begleitet die Auseinandersetzung des Begriffs seit Jahren. Im Gespräch erklärt der Dozent der Universität Bielefeld, dass mit dem Heimat-Begriff Grenzen gezogen werden, die sich nicht allein auf der Landkarte finden lassen. Tafazoli unterstützt die Idee von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der am Tag der deutschen Einheit erklärte, dass der Wunsch nach Heimat in einer aufgewühlten Welt nicht verurteilt werden dürfe. &bdquo;Wer sich nach Heimat sehnt, der ist nicht von gestern. Heimat weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit", sagte Steinmeier. Tafazoli ergänzt, dass die Vergangenheit einen ebenso großen Einfluss auf die Heimat habe, wie Gegenwart und Zukunft. &bdquo;Aus deren Verflechtung wächst der Begriff Heimat", erklärt Tafazoli, der seit 2011 an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld forscht und lehrt. Der Heimat-Begriff ist zudem identitätsstiftend, sagt Tafazoli. &bdquo;In unserem globalen Zeitalter ist eine der größten Herausforderungen die individuelle Identifizierung mit der Heimat. Denn immer mehr Menschen haben Angst davor, sich nicht mehr mit ihrer Heimat identifizieren zu können." Durch diese Angst entsteht der Wunsch, die Heimat zu schützen. &bdquo;Schutz impliziert jedoch, dass eine Gefahr vorausgeht. Wenn man aber vom Verwahren der Heimat im kulturellen Gedächtnis spräche, so implizierte man auch die Wertschätzung der Heimat." "Angst vor dem Verlust der Heimat zunimmt, hängt mit Grenzverschiebungen zusammen" Dass die Angst vor dem Verlust der Heimat zunimmt, hängt laut Tafazoli vor allem mit Grenzverschiebungen zusammen, deren Gründe auf Migration, Vertreibung und Exil, aber auch auf wirtschaftliche und kulturelle Globalisierungsprozesse zurückgehen. &bdquo;Dabei werden Grenzen gezogen, allerdings nicht nur auf der Landkarte, da wir durch Grenzen auch bewerten und werten sowie ein- und ausgrenzen." Deshalb haben diese Grenzen auch eine identitätsbildende Funktion, die sich vor allem in der Differenzierung eines &bdquo;Wir" und eines &bdquo;Nicht-Wir" niederschlägt. &bdquo;Diese Strategie kann in unterschiedlicher Weise genutzt werden und liegt zum Beispiel auch der Politik des türkischen, des russischen und des US-amerikanischen Präsidenten zugrunde." Grenzen bilden auch Räume, die ebenfalls eine identitätsbildende Funktion besitzen, sagt der Wissenschaftler. &bdquo;Weil Heimat auch ein kultureller und geistiger Raum ist, lässt sich der Begriff nicht auf den Geburtsort oder das Herkunftsland, also geografisch beschränken." Deshalb warnt Tafazoli davor, Menschen und ihre Identität auf ihren Ursprung zu reduzieren. Auch persönlich hat Tafazoli mehr als eine Heimat. &bdquo;Obwohl der Begriff Heimat im Deutschen und im Persischen nur im Singular gebraucht wird, heißt das nicht, dass wir den Begriff nicht auch im Plural verstehen können, insbesondere im Zeitalter der Grenzüberschreitungen."Heimat ist für Tafazoli eine Verflechtung aus Erinnerungen und Erfahrungen aus der Vergangenheit, der Gegenwart und den Erfahrungen, die noch bevorstehen. &bdquo;Jeder kann seine Heimat gestalten, indem Vergangenes an Zukünftiges angeschlossen wird, deshalb ist der Begriff auch individuell." Tafazoli zählt sein Herkunftsland Iran ebenso zu seiner Heimat wie Deutschland und Europa. &bdquo;Durch die islamische Revolution 1979 im Iran hatte ich keinen Halt mehr in meinem Herkunftsland. Das bedeutet aber nicht, dass ich das Land, in dem ich eine unbeschwerte und friedliche Kindheit und Jugend verbracht habe, nicht auch als Heimat bezeichne." Als Heimat bezeichnet Tafazoli aber auch Europa, &bdquo;dessen Offenheit ich mein Leben verdanke". Ebenso wie Deutschland. &bdquo;Diese Heimat hat mir das ermöglicht, was mir die islamische Republik verwehrte." Die Schwierigkeit in der Definition des Heimat-Begriffs geht nach Angaben des Bielefelder Wissenschaftlers aber nicht nur auf individuelle Variationen zurück, sondern auch auf die emotionale Färbung. &bdquo;Heimat ist auch ein Gefühl, das aus Erinnerungen wächst und diese auch stiftet", sagt Tafazoli.

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