
In Ostwestfalen-Lippe merkt man die aktuelle Krise der Autoindustrie, insbesondere bei den Zulieferern. Autozulieferer ZF, Scheinwerfer-Hersteller Hella werden Stellen abbauen und Autozulieferer Gestamp weitet die Kurzarbeit aus. Warum trifft sie die Krise so?
Hildegard Müller: Aktuell kommen verschiedene Herausforderungen zusammen. Zum einen ist da die schwierige Situation des Standortes im internationalen Wettbewerb: Die Strompreise sind zum Beispiel bis zu drei Mal so hoch wie bei den relevanten Wettbewerbern, hinzu kommen die enormen Lasten durch bürokratische Auflagen. Ein weiterer Punkt ist die Transformation vom Verbrenner zur Elektromobilität. So sind Elektromotoren mit insgesamt etwa 200 Bauteilen weniger komplex als ein Verbrennungsmotor mit etwa 1.400 Teilen. Viele Zulieferer müssen neue Geschäftsmodelle und Produkte entwickeln, während sie noch Komponenten für den Verbrennungsmotor bauen – um aus den Erlösen die Transformation und neue Geschäftsmodelle zu finanzieren. Und gleichzeitig wird ihnen die Finanzierung durch die Bankenregulierung immer weiter erschwert – ein Punkt, wo die Politik unbedingt aktiv werden muss. Letztlich ist die geringere Beschäftigung aber auch eine Konsequenz der Transformation. Von den politischen Rahmenbedingungen hängt nun ab, ob dieser Effekt verstärkt oder gedämpft wird, heißt: ob Investitionen hier getätigt und somit neue Arbeitsplätze und neue Wertschöpfung hier oder woanders entstehen. Fakt ist: Die Branche wird auch in Zukunft interessante und gute Jobs bieten – auch wenn es teilweise andere sein werden als früher.
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Am Montag werden Sie in Bielefeld über aktuelle Entwicklungen in der Autoindustrie sprechen. Wird es nur um Krisen gehen oder haben Sie auch einen positiven Ausblick?
Es ist eine Zeit sich überlagernder Krisen. Wir haben das Vor-Corona-Niveau noch nicht erreicht, haben eine Konjunkturkrise im dritten Jahr, haben geopolitische Verwerfungen – das alles trifft eine global aufgestellte Autoindustrie natürlich. Was aber Hoffnung macht: Unsere Produkte in Forschung und Entwicklung können sehr gut mithalten. Dominierende Branche bei den deutschen Patentanmeldungen ist nach wie vor die Automobilindustrie. Unter den Top Ten der anmeldestärksten Unternehmen waren auch 2024 ausschließlich Automobilhersteller und Zulieferer. Wir investieren in den nächsten vier Jahren als Autoindustrie global rund 320 Milliarden Euro in Forschung, Entwicklung und Digitalisierung und 220 Milliarden in Sachinvestitionen, darunter den Umbau der Werke. Das heißt, bei der stetigen Neuerfindung des Autos sind wir weiter vorne mit dabei.
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Warum sieht man noch so wenige Elektroautos auf den Straßen in der Region?
Die gesamte Wirtschaft ist derzeit geschwächt, daraus resultiert auch eine Konsumflaute. Schädlich sind auch die Zölle auf in China produzierte Autos. Die treffen ja nicht nur chinesische, sondern auch deutsche Hersteller, die in China produzieren. Wichtig ist, dass immer mehr und auch preisgünstigere Elektroautos auf den Markt kommen. Weltweit bieten die deutschen Hersteller übrigens schon 130 elektrische Modelle an. Gleichzeitig können wir auch selbstbewusst sein: Deutschland ist weltweit zweitgrößter Produktionsstandort für E-Autos, und wir steuern auf einen neuen Produktionsrekord zu. Sieben von zehn in Deutschland verkauften E-Autos kommen von deutschen Herstellern. Und: Wer einmal elektrisch unterwegs war, ist begeistert. Ganz entscheidend ist: Wir müssen das Vertrauen der Kunden gewinnen. Dafür brauchen wir auch eine bessere Ladeinfrastruktur und bezahlbare Ladestrompreise. In drei von zehn Gemeinden gibt es noch keinen Ladepunkt. Rund sieben von zehn Gemeinden haben noch keinen Schnellladepunkt installiert. Es reicht nicht, wenn wir die besten Autos bauen – Berlin und Brüssel erkennen zunehmend, dass auch andere ihren Beitrag zum Gelingen leisten müssen. Die künftige Bundesregierung und Brüssel müssen gemeinsam einen Politikwechsel mitbringen, der diese Transformation auch international wettbewerbsfähig ausgestaltet.
In den vergangenen Monaten haben immer wieder Autohandlungen in der Region geschlossen. Was muss getan werden, damit dann auch tatsächlich wieder Autos gekauft werden?
Neben einer notwendigen generellen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage sind die Rahmenbedingungen für den Erfolg der E-Mobilität entscheidend. Wo ist die nächste Ladestation, wie hoch ist der Ladestrompreis? Solange hier nicht alle überzeugt sind, hält das die Verbraucherinnen und Verbraucher vom Kauf ab. Wir diskutieren zum Beispiel seit Jahren über den Stromnetzausbau. Wir bauen auch Ladesäulen, aber wir können keine Stromnetze bauen. Das müssen die Energieversorger tun. Der Umstieg muss daher ganzheitlich gedacht werden. Die Autoindustrie will die besten Autos bauen. Die Politik muss die Rahmenbedingungen verbessern. Nur so lässt sich das Vertrauen der Kunden gewinnen. Ich kann nur jedem dazu raten, sich mal ein Elektroauto auszuleihen. Mit der Beschleunigung und der Ruhe des Fahrens – das ist ein tolles Fahrgefühl. Ich höre oft, wer einmal Elektro gefahren ist, will meist gar nicht „zurück“.
Welche Rolle spielt autonomes Fahren bei der Entwicklung?
Eine große Rolle – und wir sind da in Deutschland sehr gut aufgestellt. Wenn Sie heute ein neues Auto kaufen, kann das Auto schon in vielen Teilen das Fahren übernehmen, über Geschwindigkeit, Bremsen und Abstandhalten bis Spurwechsel. Die deutschen Hersteller sind im hochautomatisierten Fahren weltweit führend. Ich freue mich sehr auf das autonome Fahren, weil es beispielsweise für ländliche Regionen – da, wo öffentlicher Nahverkehr nicht mehr kostendeckend fährt – mit Shuttle- und On-demand-Systemen gute Lösungen bieten kann. Damit wir unsere technische und digitale Führungsrolle als deutsche Autoindustrie in dem Gebiet halten und weiter ausbauen können, müssen auch hier die Rahmenbedingungen stimmen – denn auch hier sind die bürokratischen Anforderungen mit teilweise inkonsistenter und widersprüchlicher Regulatorik und hohen Berichtspflichten, Maßnahmen zur Zertifizierung oder Abgaben von Meldungen groß. Wir fordern darüber hinaus, dass der Genehmigungsprozess für hochautomatisierte Fahrzeuge in den Mitgliedsstaaten harmonisiert wird. Europa muss hier also gleichzeitig schlanker werden – und mehr zusammenwachsen. Und: Wir müssen mehr über Datennutzung, nicht nur über Datenschutz, sprechen.
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