Bessere Ernährung: "Die Politik überschätzt den Verbraucher"

Frau Buyken, Sie fordern einen Ernährungssystemwechsel, der in Ihren Augen dringend notwendig ist. Was würde passieren, wenn die Weltbevölkerung sich weiter ernährt wie bisher? ANETTE BUYKEN: Das Hauptproblem ist: Unsere derzeit praktizierte Ernährung geht über die planetaren Grenzen hinaus. Obwohl vegane Ernährung immer mehr im Trend liegt, nimmt der Konsum von tierischen Produkten weiter zu. Denn viele Länder sind erst auf dem Weg dahin, unseren Ernährungsstandard zu erreichen. Wenn wir nichts ändern, geht die Welt auf deutsch gesagt 'vor die Hunde'. Es ist also dringend an der Zeit, das Ernährungssystem zu ändern. Was kann jeder Einzelne tun, um dieser Entwicklung gegenzusteuern? Noch immer sind Lebensmittelabfälle das größte Problem. Jeder sollte sich hinterfragen: Was kaufe ich ein und wie viel kaufe ich ein. Lebensmittel unverpackt zu kaufen kann helfen, bedarfsgerechter zu kaufen. Außerdem sollte der Fleischkonsum reduziert werden. Die Evidenz zeigt, Fleisch zu essen ist nicht grundsätzlich schlecht für die individuelle Gesundheit. Aber gemessen an dem, was durchschnittlich an Fleisch gegessen wird, kann der Fleischkonsum durchaus reduziert werden. Lebensmittelabfälle vermeiden, Fleischkonsum reduzieren - die Vorschläge sind nicht neu. Wieso hat das bisher nicht zum Wandel des Ernährungssystems geführt? Weil die Politik Verbraucherinnen und Verbraucher überschätzt. Die Verantwortung an den Einzelnen abzugeben überfordert Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir brauchen darum eine andere Rahmensetzung. Und dafür setzt sich der WBAE ein. Wahl für gesunde Lebensmittel erleichtern Sie meinen den wissenschaftlichen Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE), dem Sie als Ernährungswissenschaftlerin angehören. Welche Aufgabe hat das Gremium? Der WBAE berät die Bundesregierung zu Themen rund um Landwirtschaft und Ernährung. Wir veröffentlichen wissenschaftliche Berichte, Gutachten und geben Expertise. Nachhaltige Ernährung stand schon auf der Agenda der alten Bundesregierung. Die Ampel-Koalition greift das Thema ebenfalls auf und hat eine enge Zusammenarbeit mit dem WBAE angekündigt. Was wollen Sie konkret ändern? Zum einen muss es auf Produktionsseite ein Umdenken geben, beispielsweise mit einem Umbau der Landwirtschaft. Aus Lebensmittelsicht betrachtet ist klar, dass ökologische Betriebe nicht effizient genug sind, um den kompletten Bedarf zu decken. Trotzdem muss sich in Sachen Tierwohl etwas ändern, eine Mischung aus konventioneller und ökologischer Landwirtschaft wäre ideal. Mit diesen Themen beschäftigen sich im Beirat aber die Agrar-Experten. Und zum anderen muss Verbraucherinnen und Verbrauchern die Wahl von gesunden Lebensmitteln erleichtert werden. Ernährungsbildung allein - so wichtig sie auch ist - reicht hier nicht aus. Damit gesundes Essen zur neuen Norm wird, ist unsere erste Forderung, dass gesundheitsförderliche Mahlzeiten in Kindergärten und Schulen umsonst sind. Auch weil die Ernährungsarmut weiter zunehmen wird. Die Zeit wird knapp Einige Unternehmen haben sich mit Reformulierungsstrategien selbst dazu verpflichtet, den Zuckeranteil in ihren Produkten zu senken. Kann das zum Ziel beitragen? Reformulierungen sind gut, sollten in Deutschland allerdings konsequenter durchgesetzt werden und nicht auf freiwilliger Basis. Andere Länder sind da weiter als wir und haben konkrete Ziele in einem kürzeren Zeitraum formuliert. Die Zuckersteuer war auch ein guter Ansatz, das Geld könnte bei der Kinderernährung eingesetzt werden. Im neuen Koalitionsvertrag taucht sie allerdings wieder nicht auf. Dabei fänden viele Verbraucherinnen und Verbraucher eine veränderte Besteuerung, beispielsweise weniger Steuern auf gesunde Lebensmittel und höhere Steuern auf ungesunde Lebensmittel, akzeptabel. Schon länger ist die Angebotsarchitektur im Supermarkt in der Kritik. Was müsste sich da ändern? Hier wäre eine bessere Platzierung der gesunden Lebensmittel notwendig. Noch immer gibt es an der Kasse Süßigkeiten, Alkohol und Tabakwaren. Muss das sein? Da könnten genauso gesunde Lebensmittel liegen. Den Vorstoß einiger Supermärkte, bis 2030 nur noch Fleisch bestimmter Tierwohlklassen anzubieten, ist zu begrüßen, dürfte aber gerne früher umgesetzt werden. Außerdem sollen mehr Label, wie beispielsweise ein verbindlicher Nutri-Score, de Verbraucherinnen und Verbrauchern niedrigschwellig Informationen über die Lebensmittel liefern. Bisher setzen wir auf die Kooperation der Einzelhändler. Wenn das nicht reicht, muss die Politik eingreifen. Die derzeitige geopolitische Lage stellt die Ernährungspolitik vor neue Herausforderungen. Sehen Sie die aktuelle Situation eher als Hindernis oder als eine Chance für den Wandel des Ernährungssystems? In meinen Augen ist es eine Chance. Die Uhr tickt und die Zeit wird knapp. Die Ernährungsprobleme müssen angegangen werden und können nicht aufgeschoben werden. Aufgrund der Inflation steigen schon jetzt die Lebensmittelpreise. Warum also nicht jetzt eine Änderung der Preisstruktur vornehmen? Gesunde Lebensmittel müssen preislich attraktiver werden und tierische Produkte angemessene Preise bekommen. Dann kann ein Ernährungssystemwandel stattfinden.

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