Arbeit macht immer mehr Seelen krank: Bielefelder schlägt Alarm

Bielefeld. Die Welt der Wirtschaft ändert sich dramatisch, Digitalisierung ist ein Stichwort. &bdquo;Wir sind zu einer Kopfarbeiter-Gesellschaft geworden", stellt Bernhard Badura fest, Gesundheitswissenschaftler der Uni Bielefeld. Die Risiken für die psychische Gesundheit von Arbeitskräften seien dadurch gestiegen. Schon vor der Corona-Krise sei eine massive Zunahme psychischer Erkrankungen von Arbeitskräften beobachtet worden. Trotzdem werde der psychischen Gesundheit bisher zu wenig Gewicht beigemessen, beklagt Badura. Nötig sei vor allem ein Wandel der Führungskultur in der Wirtschaft. Und Badura unterstützt die Entwicklung von Kennzahlen, mit denen der Einsatz der Unternehmen für Arbeits- und Gesundheitsschutz zugunsten der Mitarbeiter gemessen und bilanziert werden können. Rasanter Anstieg der Erkrankungen Badura diagnostiziert eine &bdquo;Epidemie psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit", die derzeit allerdings durch die Pandemie überdeckt werde. 2018 seien nach Zahlen der Krankenkasse AOK 30 Prozent der erwerbstätigen Versicherten wegen psychischer Erkrankungen in Behandlung gewesen. Sie seien vor allem von Angststörungen oder Depressionen betroffen gewesen. In den Jahren von 2007 bis 2017 habe sich die Zahl der Krankheitstage dadurch von 48 Millionen auf 107 Millionen Tage mehr als verdoppelt. Der direkte wirtschaftliche Schaden habe sich zugleich von 12,4 auf 33,9 Milliarden Euro beinahe verdreifacht. Bis zu 50 Prozent der Beschäftigten litten zudem unter Symptomen wie Erschöpfung, Schlafstörungen, Nervosität, Reizbarkeit oder Niedergeschlagenheit. Immerhin: Krankschreibungen etwa wegen Herz- und Kreislaufproblemen seien rückläufig. Handlungsbedarf Die Zahlen zeigten nur die Spitze des Eisberges, ist Badura überzeugt – denn gerade psychische Probleme würden oft bagatellisiert und individualisiert. Tenor: Man spricht nicht darüber. Dabei sei die psychische Gesundheit der Beschäftigten von zentraler Bedeutung für die wissensintensive Wirtschaft. &bdquo;Manche Ökonomen fordern seit langem die Ergänzung ökonomischer Kennzahlen durch Kennzahlen für Lebensqualität, Gesundheit und Glück", so der Wissenschaftler. Für den Wandel der Führungskultur spreche auch die laufende Anhebung des Rentenalters, die den Interessen vieler Arbeitskräfte widerspreche. Ohnehin hätten sich die Ansprüche der Mitarbeiter geändert, hin zu Sinnhaftigkeit der Arbeit, Selbstständigkeit, Work-Life-Balance. Larry Fink, Chef des US-Investment-Giganten Blackrock, habe Unternehmen bereits zur Berücksichtigung von Kriterien jenseits des Gewinnziels ermahnt – sonst drohe ihnen Kapitalentzug. Rolle der Führung Voraussetzung für die nötige Verbesserung der Arbeitsbedingungen seien Änderungen des Führungsverhaltens. Denn die emotionale Bindung von Mitarbeitern an Firma, Vorgesetzte und Kollegen sei entscheidend für ihre Arbeitszufriedenheit und Gesundheit und so auch für ihre Leistung. Die Stärke dieser Bindung wiederum sei abhängig von der Qualität des alltäglichen Miteinanders im Betrieb und Faktoren wie Feedback und Wertschätzung. All dies seien Führungsaufgaben. Dabei seien authentische Einschätzungen, Kritik und Korrekturen besser als Sprachlosigkeit. Hindernisse für Wandel Im Rahmen der Fachtagung &bdquo;Prävention vor Kuration" des Zentrums für wissenschaftliche Weiterbildung (ZWW) der Uni Bielefeld und der Fakultät für Gesundheitswissenschaften identifizierte Badura drei große Hindernisse für den Wandel: Erstens habe das Gewinnziel für Manager noch immer ein zu hohes Gewicht – denn für Gesundheitsschutz gebe es keine Bonuszahlung. Zweitens gebe es vielerorts ein Kastensystem mit Denkern und Machern, in dem die Meinung von 80 Prozent der Beschäftigten kaum zähle. Drittens würden psychische Probleme zu wenig thematisiert. Baduras Vorschläge Badura fordert, Fehlzeitenstatistiken müssten unabhängig von personenbezogenen Problemen geprüft werden, denn sie zeigten oft Handlungsbedarf in der Organisation. Auch über Quellen psychischer Beeinträchtigungen müsse es Berichterstattung geben, &bdquo;denn Komplexität darf uns nicht dauernd überfordern". Führungskräfte müssten laufend weitergebildet und von Koordinierungs- und Kontrollarbeiten entlastet werden, damit sie mehr Zeit für die Entwicklung ihrer Mitarbeiter haben. Badura befürwortet die Pläne der EU für neue Berichtspflichten der Firmen zu Sozialverantwortung und Mitarbeiterorientierung. Corona-Folgen Die Auswirkungen der Corona-Krise sind zum Teil noch vage. Wie ZWW-Leiterin Uta Walter und Julia Rotzoll in einer aktuellen Studie festhalten, habe die Beachtung der psychischen Gesundheit durch die Pandemie einen erhöhten Stellenwert erhalten. In einer stärkeren Homeoffice-Kultur müsse es aber &bdquo;nicht zwangsläufig zu einer Zunahme psychischer Probleme kommen". Wegen der individuell unterschiedlichen Reaktionen müssten Führungskräfte umso sensibler für Auffälligkeiten sein.

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