Wenn der Einzelhandel in Not gerät: "Die Innenstädte brauchen neue Regeln"

Herr Clausen, wie groß ist die Gefahr, dass wir ein Einzelhandelssterben erleben? Stefan Genth vom Einzelhandelsverband warnt, es könnte 50.000 Schließungen geben.Pit Clausen: Wir haben tatsächlich Hinweise auf erste mögliche Schließungen und Geschäftsaufgaben. Aber wir hoffen, dass die Entwicklung in Bielefeld nicht so einschneidend ausfällt wie vielleicht in anderen Städten. Denn Bielefelds Versorgungsangebot reicht auch in das Umland hinein. Absehbar ist allerdings: Der Einzelhandel wird sich ändern, und damit auch die Situation in den Innenstädten. Es trifft uns vielleicht nicht so schlimm wie Städte im Ruhrgebiet, wo eine Verödung der Innenstädte befürchtet wird?Genau, da herrscht im nahen Umkreis viel härterer Wettbewerb. Bielefeld ist halt das Einzelhandelszentrum in OWL und wird es auch bleiben. Doch schon vor Corona haben durch Digitalisierung und Onlinehandel in vielen Städten Veränderungen eingesetzt, die durch die Pandemie einen deutlichen Schub bekommen haben. Das stellt uns schneller vor Herausforderungen, als wir gedacht hätten. Ein anderer Trend führt ins Homeoffice. Trifft es die Innenstädte, wenn die Unternehmen ihre Büroflächen halbieren?Wenn die Büros halbiert würden, träfe uns das tatsächlich, aber so dramatisch erwarte ich es nicht. Ich sehe in unserer eigenen Organisation, der Stadtverwaltung, dass hier mehr als 1.000 der rund 4.500 Beschäftigten im Homeoffice sind. Manche aber nur tageweise oder wochenweise. Wir haben noch nicht die Konsequenz gezogen, dass Flächen anders zugeordnet werden. Klar ist, es zeigen sich ungeahnte Veränderungspotenziale und eine neue Veränderungsbereitschaft auf allen Seiten. Es wird Veränderungen geben, aber nicht extrem. Wo Clausen Handlungsbedarf sieht Es gibt Unternehmen, in denen nur noch 10 bis 20 Prozent der Belegschaft im Büro sind.Das ist extrem. Allerdings gibt es Büronutzungskonzepte, die anders als gewohnt sind. Etwa bei Itelligence: Dort gehen viele Mitarbeitern nicht in ihren eigenen Raum, sondern sie kommen morgens mit ihrem Laptop und nutzen dann ein Büro, das gerade frei ist. Das ist sehr flexibel. Das kann für bestimmte Arbeitsbereiche eine Perspektive sein, selbst in der Verwaltung, aber so weit sind wir noch lange nicht. Die Erwartungshaltung ist noch: mein Bild, meine Pflanze, mein Schreibtisch. Doch es gibt Vorbilder für Veränderungen. Sie müssen über mögliche Reaktionen auf verschiedene Szenarien nachdenken. Sehen Sie Handlungsbedarf?Ja, natürlich. Wir reagieren schon und haben uns im Rat den Auftrag geholt, das City-Management neu zu gestalten. Wirtschaftsförderer, Marketingleute und Wirtschaftsvertreter überlegen, wie die Innenstadt der Zukunft aussehen soll – speziell der Bereich rund um die Fußgängerzonen. Was geschieht, wenn Einzelhändler aufgeben und ihnen keine neuen Händler nachfolgen? Wir müssen andere Nutzungsformen der Handelsflächen in den Innenstädte zulassen und einen neuen Mix ermöglichen von Gastronomie, Serviceleistungen, Büros, Wohnen und Einzelhandel. Das hört sich nach einem großen Umbau an.Als Städte werben wir daher in Land und Bund für Unterstützung: Das ist so ein großes Strukturthema, dafür brauchen wir Hilfe. Vom Land gab es bereits 100.000 Euro aus einem Sonderfonds für den Management-Prozess. Wofür wird Hilfe gebraucht?Spannend wird es etwa, wenn es irgendwann um große Immobilien geht, deren Eigentümer mit gewohnten, aber nun nicht mehr realistischen Mieten und Renditen kalkulieren. Solche Situationen können vielleicht nur durch kommunale Interventionen gelöst werden. Die Städte brauchen dafür laut Städtetag Hilfen von 500 Millionen Euro pro Jahr, zweieinhalb Milliarden in fünf Jahren. Damit wir eingreifen können, um Immobilien herauszulösen und anderen Nutzern zur Verfügung zu stellen – als Entwicklungshilfe. Die Städte wollen Immobilien kaufen und anderen anbieten?Das kann kaufen sein oder mieten. Es kann auch um Zuschüsse gehen, um die Vorstellungen eines Eigentümers in Einklang zu bringen mit den Möglichkeiten eines neuen Nutzers, der nicht so viel zahlen kann, wie es einst ein erfolgreicher Einzelhandelsfilialist konnte. Die Städte würden also eine Umnutzung subventionieren?In Einzelfällen, wenn ein neuer Mieter etwa aus dem Kreativbereich kommt, vielleicht Künstler ist. Städtebauförderung ist auch nichts Neues. Und die Sorge besteht, dass es gerade in den zentralen Innenstadtbereichen zu regelrechten Brüchen kommen wird. Wenn wir nicht wollen, dass dort alles den Bach runtergeht, müssen wir für eine Übergangsphase intervenieren können. Ohne Förderung durch Bund und Land wären die Städte dazu aber nicht in der Lage. Sind auch neue Gesetze und neues Planungsrecht nötig?Wenn wir einen neuen Funktionsmix bekommen, mit Events, Gastronomie und Wohnen nebeneinander, wird dort auch viel passieren. Es soll ja lebendig sein. Doch daraus könnten Konflikte entstehen: Der Einzelhändler ging abends nach Hause, aber nun kommen die Bewohner erst abends zurück und wollen Ruhe. Wir müssen also die Konkurrenzen, die sich aus dem neuen Nebeneinander ergeben, neu regeln. Da kann es nicht sein, dass wir mit den alten Regelungen weitermachen, denn die führen zum Stillstand. Mit dem jetzigen Lärmschutzrecht können Sie keine lebendige Innenstadt gestalten. Viele Bielefelder waren enttäuscht, als die Gastronomie den Klosterplatz räumen musste...Ja, das ist ein Paradebeispiel. Die Gastronomie wurde dort auf juristischem Wege ausgehebelt. Für eine bunte Innenstadt brauchen wir andere Verabredungen, als sie in einer ruhigen Vorstadtsiedlung gelten. Dafür brauchen wir Möglichkeiten zum Experimentieren und Probieren. Es gibt Vorschläge, die Einkaufsstraßen in den Städten zu verkleinern. Eine gute Idee?Für Bielefeld gibt es diese Überlegungen nicht. Im Gegenteil, wir denken über weitere Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung in der City nach. Das wären eher Ausweitungen der Fußgängerbereiche. Aber die klassischen Einkaufsstraßen müssen sich sowieso ändern – da wird es eben nicht mehr nur Handel geben. Es deutet alles darauf hin, dass sich bunte Funktionsmixe ergeben werden, an die sich auch die Handelsangebote anpassen können. Dann gibt es am Ende bestimmt wieder mehr Lebensmittelläden in der Innenstadt. Oder Schulen.

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