Krankenkassen fluten Sozialgerichte mit Klagen

Berlin/Düsseldorf. Die Sozialgerichte in Deutschland ächzen unter einer Flut von Klagen der gesetzlichen Krankenkassen. Auslöser ist das vom Bundestag beschlossene Pflegepersonalstärkungsgesetz. Demnach müssen die Krankenkassen innerhalb von zwei Jahren gegen vermeintlich fehlerhafte Krankenhausrechnungen vorgehen. Hintergrund ist ein Urteil des Bundessozialgerichts vom Juni, wonach Kliniken bei der Behandlung von Schlaganfallpatienten strenge Vorgaben einhalten müssen, darunter ein Zeitlimit für den Transport in eine Spezialklinik, um eine erhöhte Fallpauschale berechnen zu können. Das Bundesgesundheitsministerium hatte die Verjährungsfrist daraufhin verkürzt. Bisher hatten die Krankenkassen vier Jahre Zeit, um gegen Abrechnungen von Kliniken, die aus ihrer Sicht fehlerhaft sind, vor Gericht zu ziehen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) halbierte die Frist auf zwei Jahre. Zudem ließ Spahn eine kurzfristige Übergangsregelung einbauen. Etwaige Rückzahlungsansprüche der Krankenkassen aus der Zeit von 2014 bis Ende 2016 können nicht mehr geltend gemacht werden, wenn die entsprechende Klage nicht bis zum 9. November 2018, dem Tag, an dem der Bundestag das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz verabschiedete, bei einem Sozialgericht eingereicht worden ist. Die Folge: Die Sozialgerichte werden aktuell von einer nie da gewesenen Klagewelle erfasst. Alleine in Nordrhein-Westfalen sind nach Angaben des Justizministeriums bei den acht Sozialgerichten des Landes zwischen dem 1. und dem 13. November 10.200 Klagen im Sachgebiet Krankenversicherungsrecht eingereicht worden. Auch in anderen Bundesländern werden die Sozialgerichte mit Klagen überhäuft. In Niedersachsen laufen 10.000 Verfahren und in Rheinland-Pfalz sogar 15.000. Krankenhausgesellschaft verurteilt die Klagewelle als Geldschneiderei Belastend ist die Situation nach Angaben der deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) jedoch nicht nur für die überlasteten Sozialgerichte, sondern auch für die betroffnen Kliniken. "Die Berichte zu den Klagen erwecken den Eindruck, als ob die massenhaften Rechnungskürzungsklagen der Krankenkassen vor den Sozialgerichten gerechtfertigt wären. Das Gegenteil ist der Fall", sagt DKG-Präsident Gerald Gaß. "Die Krankenkassen versuchen, schamlos in letzter Minute eine durch das Bundessozialgericht ausgelöste Rechtsunsicherheit auszunutzen, um Rechnungen für Leistungen der Krankenhäuser in der Schlaganfallversorgung zu kürzen, die von den Krankenhäusern ordnungsgemäß und im Interesse der Patienten erbracht wurden." Nach Angaben von Gaß trägt die Schuld an der Klagewelle nicht Bundesgesundheitsminister Spahn, der die Rechtslücke schließen wollte, sondern die Krankenkassen. "Die Tatsache, dass viel Kassen sich dieser absolut unverantwortlichen Vorgehensweise, die an Drückerkolonnen der Inkasso-Branche erinnert nicht anschließen, macht die herrschende Willkürlichkeit mehr als deutlich." Gaß verurteilt die Klagewelle als schamlose Geldschneiderei. "Wir fordern die Krankenkassen auf, die Klagen sofort zurückzuziehen, die Rechnungskürzungen zu stoppen und sich aktiv für den Erhalt der flächendeckenden Schlaganfallversorgung einzusetzen.“ Diese Forderungen werden auch in Ostwestfalen-Lippe laut. "Das Vorgehen der Krankenkassen, die jährlich Milliarden-Überschüsse verzeichnen, schadet den Patienten", moniert Georg Rüter, Vorsitzender des Zweckverbands freigemeinnütziger Krankenhäuser Münsterland und Ostwestfalen mit 51 Mitgliedshäusern. "Bei der Versorgung von Schlaganfallpatienten zählt jede Minute, deshalb ist nicht zu verstehen warum die Krankenkassen aufgrund eines dubiosen Urteils des Bundessozialgerichts Krankenhäusern die Vergütung kürzen." Als unlauter bewertet Rüter insbesondere die rückwirkenden Forderungen der Krankenkassen und das Verrechnen von Leistungen. "Die Krankenkassen weigern sich für Leitungen zu bezahlen, die mit Krankenhäusern vereinbart und Patienten versprochen wurden. Das ist inakzeptabel." Krankenkassen verteidigen ihr Vorgehen Die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) verteidigen ihr Vorgehen. "Durch die rückwirkende Verkürzung der Beanstandungsfrist von Abrechnungen für die gesetzlichen Krankenkassen waren diese gezwungen, schnell noch vor dem Inkrafttreten dieser Neuregelung Klagen einzureichen, um die Ansprüche der Krankenkassen und damit der Beitragszahler nicht zu verlieren", erklärt der Vize-Vorstandschef des GKV-Spitzenverbands, Johann-Magnus von Stackelberg. "Durch die Hau-Ruck-Aktion der Bundesregierung gibt es nun zahlreiche Probleme." Deshalb begrüßt von Stackelberg die Initiativen aus den Ländern, bei regionalen runden Tischen nach Lösungen zu suchen, um aus der schwierigen Rechtslage das Beste machen zu können. Dem Bundesrat liegt ein Antrag vor, mit dem der Bund zu Lösungen aufgefordert wird. Die Klagen könnten Krankenhäuser in Belastungssituationen bringen, die "in Einzelfällen regional die Versorgungssicherheit zu gefährden drohen", heißt es zur Begründung in dem von Niedersachsen eingebrachten Antrag. Gefährdet ist nach Angaben des Verbandes der Krankenhausdirektoren auch die Existenz vieler Krankenhäuser, insbesondere in ländlichen Regionen. Neben der Klagewelle werden die Budgetprüfungen durch die Krankenkassen nach Angaben von Verbandspräsident Josef Düllings immer rigoroser. Die Krankenkassen überprüfen bei mehr als 20 Prozent der Krankenhausbehandlungen die Notwendigkeit und Dauer. Kommen die Kassen zu dem Schluss, dass das Krankenhaus falsch abgerechnet hat, wird die Klinik für die erbrachte Leistung nicht oder nur teilweise bezahlt. "Unterstellen die Kassen, die Krankenhäuser würden bewusst falsch abrechnen, werden vonseiten der Krankenhäuser eine zunehmende Misstrauenskultur, immer umfänglichere Rechnungsprüfungen und stark steigende Prüfquoten moniert", erklärt Düllings, Geschäftsführer des St. Vincenz-Krankenhauses Paderborn. Viele Krankenhäuser haben dem Vorgehen laut Düllings nichts mehr entgegenzusetzen, außer einem verzweifelten Hilferuf an die Politik. "Der Anteil der Allgemeinkrankenhäuser mit roten Zahlen ist in Deutschland 2017 auf 46 Prozent gestiegen."

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