Chef des Hausärzteverbands: „Das Primärarztsystem ist keine Überweisungsmaschine“

Der Hausärztinnen- und Hausärzteverband vertritt 32.000 Hausärztinnen und Hausärzte. Es ist die größte berufspolitische Vertretung dieser Mediziner. Der Allgemeinmediziner Markus Beier ist seit 2022 Bundesvorsitzender des Verbandes. Herr Beier, die gesetzlich Versicherten sollen künftig bei allen Erkrankungen immer zuerst zum Hausarzt gehen. Union und SPD haben ein &bdquo;verbindliches Primärarztsystem“ im Koalitionsvertrag vereinbart. Dafür hat Ihr Verband seit Langem gekämpft. Was bringt das den Patienten – außer vielleicht einen größeren Aufwand? Das Gegenteil ist der Fall. Der Aufwand für die Patientinnen und Patienten sinkt. Statt bei einem gesundheitlichen Problem vergeblich Termine zu suchen und möglicherweise beim falschen Facharzt zu landen, geht man zuerst in die hausärztliche Praxis. In der Regel können hier 80 bis 90 Prozent aller Probleme gelöst werden. Und wenn nicht, werden sie gezielt an einen zuständigen Facharzt überwiesen. Warum soll ich zuerst zum Hausarzt gehen und mir eine Überweisung holen, wenn ich mir zum Beispiel den Fuß verknackst habe? Das ist doch ein klarer Fall für den Orthopäden. So klar ist das eben nicht. Wir haben uns aber leider daran gewöhnt. Heute ist es doch so: Sie gehen zum Orthopäden, dann wird das Röntgengerät oder sogar ein MRT angeworfen. Doch oft handelt es sich um eine Zerrung oder Verstauchung, die der Hausarzt gut behandeln kann. Das Primärarztsystem ist keine simple Überweisungsmaschine. Als Generalisten sind die Hausärztinnen und Hausärzte dafür geschult, den allergrößten Teil der Patientenanliegen direkt in den Hausarztpraxen abschließend zu klären. Lesen Sie auch: Bad Oeynhausener wird mit seinem Spenderherz zum Comic-Helden &bdquo;Dann werden die Patienten auch zukünftig durch das System irren“ Allerdings will die Koalition Ausnahmen vorsehen. So sollen zum Beispiel auch Gynäkologen als Primärärzte gelten. Ist das nicht sinnvoll? Nein. Diese wären dann zwar formal der erste Ansprechpartner. Doch wenn kein explizites gynäkologisches Anliegen vorliegt, müssen sie die Patientinnen weiterschicken. Oder sollen Gynäkologinnen und Gynäkologen zukünftig etwa die Palliativversorgung bei Demenzpatientinnen übernehmen? Wenn am Ende ein Schweizer Käse mit unzähligen Ausnahmen und Schlupflöchern entsteht, dann werden die meisten Patientinnen und Patienten auch zukünftig auf sich allein gestellt durch das System irren. Es gibt schon ein freiwilliges Hausarztmodell, in das sich bundesweit 10 Millionen Versicherte eingeschrieben haben. Gibt es Belege, dass es wirklich funktioniert? Nachweisbar ist zum Beispiel, dass weniger Patientinnen und Patienten ins Krankenhaus eingewiesen werden müssen. Die umfassende Betreuung in hausärztlichen Praxen sorgt dafür, dass es bei chronisch erkrankten Menschen, zum Beispiel bei Diabetikern, weniger Komplikationen gibt. Zudem sind die Patienten bei den Medikamenten besser eingestellt, weil eben eine Stelle den Überblick über alle eingenommenen Arzneimittel hat. Damit gibt es auch weniger gefährliche Wechselwirkungen. Lesen Sie auch: Kranke Kinder warten 1,5 Jahre auf OP-Termine bei HNO-Ärzten in OWL Wie sollen die Hausärzte die Mehrarbeit schaffen angesichts der Tatsache, dass bereits heute 5000 Hausarztsitze unbesetzt sind? Das ist zu schaffen, aber nicht im heutigen System. Erstens brauchen wir die Möglichkeit, mehr Aufgaben an unsere Medizinischen Fachangestellten, die MFA, delegieren zu können. Sie könnten beispielsweise die Infektsprechstunde übernehmen und nur bei Unklarheiten die Ärztin oder den Arzt dazuholen. Da gibt es schon erfolgreiche Modellprojekte. Zudem muss die Honorierung geändert werden. Die Tätigkeit in einer hausärztlichen Praxis ist eine Teamarbeit. Da kann es nicht sein, dass eine Leistung gar nicht oder schlechter bezahlt wird, wenn sie von einem MFA übernommen wird. Und drittens sind unbürokratische Regelungen nötig: Wenn ein Patient zweimal im Jahr zum Rheumatologen muss, dann braucht er nicht extra jedes Mal vorher für eine Überweisung die Hausarztpraxis besuchen, sondern sollte eine Jahresüberweisung bekommen können. &bdquo;Eine Termingarantie kann und wird es nicht geben“ Im Koalitionsvertrag wird als Ziel eines Primärarztsystems eine schnellere Terminvergabe genannt. Aber durch die Einführung gibt es ja nicht automatisch mehr Hausarzt- oder Facharzttermine. Wie soll also die versprochene Termingarantie funktionieren? Eine Termingarantie für jedes Zipperlein kann und wird es nicht geben. Das ist weder personell noch finanziell leistbar. Aber die wirklich dringenden Fälle müssen schneller versorgt werden. Im Grunde ist es ganz einfach: Wenn nicht mehr jede Kleinigkeit bei einem Facharzt landet, dann haben die Kollegen mehr Zeit für die wirklich wichtigen Fälle. Denkbar wäre eine Art Ampelsystem: Rot bedeutet, dass ein Termin am selben Tag nötig ist, gelb innerhalb einer Woche und bei Grün besteht kein dringender Handlungsbedarf. Lesen Sie auch: Elektronische Patientenakte ist am Start: Was Sie jetzt wissen sollten Was soll mit Patienten passieren, die keinen Hausarzt finden oder sich nicht steuern lassen wollen? Braucht es Bonus- oder Malus-Regelungen? Machen wir uns nichts vor: Die Umstellung auf ein verbindliches Primärarztsystem wird Jahre dauern. Es wird eine längere Umstellungsphase geben, in der wir die Menschen motivieren sollten, freiwillig einzusteigen und die Vorteile kennenzulernen. Wir haben dazu als Verband bisher als Anreiz einen finanziellen Bonus für die Versicherten vorgeschlagen. Möglicherweise macht es aber auch Sinn, die Krankenkassen zu belohnen, damit sie sich für eine Teilnahme ihrer Versicherten einsetzen. Das Geld könnten die Kassen beispielsweise auch dafür nutzen, ihre Versicherten von Zuzahlungen zu befreien. Warum äußern sich die Bundesärztekammer und die Verbände der Kassenärzte kritisch zu den Koalitionsplänen, wenn das System – wie von Ihnen dargestellt – nur Vorteile hat? Die Bundesärztekammer unterstützt ein Primärarztsystem. Aber ja: Es gibt kritische Stimmen. Dazu muss man wissen, dass die Hausärzte in diesen Gremien deutlich unterrepräsentiert sind. Klar ist, dass ihre Bedeutung durch ein Primärarztsystem stark steigen würde und die Fachärzte ein Stück weit die Hoheit über die Terminvergabe verlieren. Das passt einigen nicht. Aber auch viele Fachärzte sehen inzwischen die Vorteile. &bdquo;Dann wird sich das Problem der Wartezeiten weiter zuspitzen“ Die Kassenärztliche Bundesvereinigung propagiert zur Terminvergabe den Ausbau ihrer Hotline 116 117, was auch im Koalitionsvertrag vorgesehen ist. Sie sind dagegen. Was ist daran auszusetzen? Wenn die 116 117 zu einer Überweisungshotline ausgebaut wird und selbst zu regulären Praxisöffnungszeiten Termine an Fachärzte vermittelt, dann läuft das den Zielen eines Primärarztsystems komplett zuwider. Damit wird kein Anliegen eines Patienten effizient geklärt und kein einziger unnötiger Facharztbesuch verhindert. Das Problem der teilweise exorbitanten Wartezeiten bei vielen Facharztpraxen wird sich weiter zuspitzen. Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung: Praktisch bedeutet das Hausarztmodell eine Einschränkung der freien Arztwahl. Werden die Versicherten das akzeptieren? Richtig ist, dass der Patient nicht mehr allein entscheiden kann, ob er zum Facharzt geht. Wenn er eine Überweisung hat, bleibt es ihm natürlich überlassen, welchen konkreten Arzt er auswählt. Wenn die Patientinnen und Patienten merken, dass sie konkrete Vorteile haben, also einen festen Ansprechpartner und schnelle Facharzttermine, wenn es darauf ankommt, dann wird die Akzeptanz sehr hoch sein. Lesen Sie auch: Wie junge Krebspatienten in OWL gegen Diskriminierung im Alltag kämpfen

Meistgelesen