Krise in der Türkei

Erdogan-Gegner Imamoglu in Türkei festgenommen – Proteste und Zusammenstöße

Ekrem Imamoglu ist Bürgermeister von Istanbul und gilt als aussichtsreicher Herausforderer von Präsident Erdogan. Die Opposition empört sich über seine Festnahme und wittert einen Staatsstreich.

Eine Frau skandiert vor einem Polizeikordon, das die Straßen zum Vatan-Sicherheitsministerium blockiert, wohin Imamoglu nach seiner Verhaftung gebracht werden soll. | © Tolga Ildun/ZUMA Press Wire/dpa

19.03.2025 | 19.03.2025, 21:59

Istanbul (dpa). Dutzende Festnahmen, Demonstrationsverbote, Straßensperren sowieBeschränkungen bei Online-Medien: In der Türkei hat die Justiz im Zuge einer groß angelegten Razzia den führenden Oppositionspolitiker Ekrem Imamoglu festgenommen – nur wenige Tage bevor er zum Präsidentschaftskandidaten der sozialdemokratischen CHP gekürt werden sollte. Dem aussichtsreichen Herausforderer des autoritär regierendenPräsidenten Recep Tayyip Erdogan wird Korruption und Terror-Unterstützung vorgeworfen. Die Partei des Bürgermeisters von Istanbul warnte dagegen vor dem Versuch eines Staatsstreichs und rief landesweit zu Protesten auf.

Mit Imamoglu wurden laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu mindestens 87 weitere Personen festgenommen, gegen 106 werde insgesamt ermittelt. Konkret gehe es dabei unter anderem um den Verdacht der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Erpressung, Bestechung, Betrug, Ausschreibungsmanipulation und die Unterstützung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.

Imamoglu sagte frühmorgens in einem Video auf X, Hunderte Polizisten stünden vor seiner Haustür. „Wir befinden uns im Angesicht einer großen Tyrannei.“ Dann wurde er auf eine Polizeistation gebracht, nach Medienberichten wurde das Anwesen durchsucht.

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Regierungsnahe wie regierungskritische Medien berichteten am Mittwoch über kaum ein anderes Thema. Präsident Erdogan äußerte sich zunächst allerdings nicht. In einer Rede am Abend ließ er das Thema vollständig unkommentiert.

Droht eine Amtsenthebung?

Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu spricht zu seinen Anhängern vor dem Istanbuler Gerichtsgebäude. Wenige Tage vor seiner geplanten Ernennung zum Präsidentschaftskandidaten der größten Oppositionspartei in der Türkei ist der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu verhaftet worden. - © Emrah Gurel/AP/dpa
Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu spricht zu seinen Anhängern vor dem Istanbuler Gerichtsgebäude. Wenige Tage vor seiner geplanten Ernennung zum Präsidentschaftskandidaten der größten Oppositionspartei in der Türkei ist der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu verhaftet worden. | © Emrah Gurel/AP/dpa

Terrorermittlungen gegen politische Amtsträger wecken in der Türkei böse Erinnerungen. Vor allem Bürgermeister der prokurdischen Dem-Partei wurden zuletzt wegen Terrorermittlungen ihres Amtes enthoben und durch regierungsnahe Zwangsverwalter ersetzt. Ob auch Imamoglu das droht, war unklar. Neben Imamoglu wurden unter anderem auch die Bürgermeister zweier Istanbuler Gemeinden und ein bekannter Sänger festgenommen.

Hintergrund der Terrorermittlungen ist Anadolu zufolge eine Kooperation zwischen CHP und der prokurdischen Dem-Partei bei den Kommunalwahlen. Dabei hatten beide Parteien zusammengearbeitet, um in Gemeinden Mehrheiten zu gewinnen. Über diese Kooperation habe die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK versucht, ihren Einfluss auszuweiten,zitierte Anadolu die Generalstaatsanwaltschaft.

Die Türkei erlebe gerade „einen Putschversuch gegen den nächsten potenziellen Präsidenten“, kritisierte der CHP-Chef Özgür Özel. Seine Partei rief zu landesweiten Protesten auf. Der türkische Justizminister Yilmaz Tunc nannte Aufrufe zu Straßenprotesten sowie die Putsch-Rhetorik „inakzeptabel“.

Polizei setzt Tränengas gegen Demonstranten ein

Das Büro des Gouverneurs der Provinz Istanbul verhängte eine viertägig Demonstrations-, Versammlungs- und Nachrichtensperre bis Sonntag – an dem Tag soll Imamoglu zum Spitzenkandidaten gekürt werden. In der Millionenmetropole waren Straßen gesperrt, auch der zentrale Taksim-Platz und etliche Bahnstationen wurden geschlossen.

Dem Verbot zum Trotz kamen Hunderte Menschen vor dem Gebäude der Stadtverwaltung in Istanbul zusammen, um gegen die Festnahme zu protestieren. Auch an der Istanbul-Universität protestierten Studierende. Medien berichteten von Tränengaseinsatz vonseiten der Polizei. Auch in anderen Städten der Türkei wurde Berichten zufolge demonstriert.

Auch am Abend demonstrierten zahlreiche Menschen. Trotz eines Verbotes kamen allein in Istanbul Tausende Menschen unter hohem Polizeiaufgebot vor der Stadtverwaltung zusammen, wie eine dpa-Reporterin vor Ort berichtete. Auch in Ankara gab es dem Sender Halk Tv zufolge Proteste. An der dortigen ODTÜ-Universität kam es demnach zu Zusammenstößen zwischen Studierenden und der Polizei. Dabei sollen auch Demonstrierende in Gewahrsam genommen worden sein.

Etliche soziale Netzwerke sowie Kurznachrichtendienste waren nur eingeschränkt nutzbar. Viele Türken beschrieben Drosselungen und Beschränkungen unter anderem auf X, Youtube, Instagram, Tiktok, Whatsapp sowie Signal und Telegram. Imamoglu sollte mit großer Wahrscheinlichkeit bei kommenden Präsidentschaftswahlen als Gegner Erdogans antreten. Aktuellen Umfragen zufolge wäre ein Sieg möglich.

Erdogan darf 2028 regulär nicht wieder antreten

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Ekrem Imamoglu

Imamoglus Frau machte die Regierung Erdogans als Verantwortliche aus. Dilek Imamoglu sagte in einer Videobotschaft: „Diejenigen, die bei der nächsten Wahl nicht verlieren wollen, haben diesen seit langem geplanten Schritt getan und dabei die Demokratie mit Füßen getreten.“

Erdogan führt die Türkei seit mehr als 20 Jahren als Regierungschef oder Präsident. Viele Oppositionelle sehen in dem Vorgehen nun den Versuch, einen politischen Gegner auszuschalten.

Erdogan darf laut geltender Verfassung beim regulären Termin 2028 kein weiteres Mal als Präsident antreten – es sei denn, das Parlament stimmt für vorgezogene Neuwahlen. Erdogans Partei und ihre Verbündeten können dies im Parlament nicht ohne Oppositionsstimmen veranlassen.

Neue Repressionswelle im Gang

Proteste in Istanbul: Anhänger von Ekrem Imamoglu zeigen ihre Unterstützung für den festgenommenen Bürgermeister. - © Emrah Gurel/AP/dpa
Proteste in Istanbul: Anhänger von Ekrem Imamoglu zeigen ihre Unterstützung für den festgenommenen Bürgermeister. | © Emrah Gurel/AP/dpa

Beobachter sahen die geplante Aufstellung Imamoglus so weit im Voraus der Wahl als Versuch, ihn vor politischen Repressionen zu schützen. Imamoglu drohen in einer Reihe weiterer Verfahren Haftstrafen und Politikverbote. Er bestreitet seine Schuld in all den Verfahren.

Seit mehreren Monaten mehren sich juristische Verfahren gegen Mitglieder der türkischen Opposition und der Zivilgesellschaft. Beobachter bezeichnen sie als neue Repressionswelle. Die Justiz in der Türkei gilt als politisiert. Ebenfalls am Mittwoch wurde etwa derInvestigativjournalist Ismail Saymaz in Zusammenhang mit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 festgenommen.

Der türkische Exiljournalist Can Dündar sagte der dpa: „Erdogan hat heute den Putsch durchgeführt, den er lange geplant und vorbereitet hat und ließ seinen engsten Rivalen ins Gefängnis stecken.“ Auch die Bundesregierung sprach von einem Rückschlag für die Demokratie in der Türkei. Die Achtung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien sei„Grundbedingung für eine funktionierende Demokratie“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete die Festnahme als „äußerst besorgniserregend“.

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Imamoglus Sieg in Istanbul gilt als größte Niederlage der AK-Partei

Imamoglus Sieg im Jahr 2019 in Istanbul, der bevölkerungsreichsten Stadt und Provinz, gilt bis dorthin als größte Niederlage der AK-Partei Erdogans. Seine Partei hatte die Metropole bis dahin regiert. Imamoglu gewann Istanbul bei den Kommunalwahlen 2024 dann sogar ein zweites Mal.

Die Festnahmen erschütterten auch die Finanzmärkte. Die Landeswährung Lira sackte zum US-Dollar auf ein Rekordtief ab, der Aktienmarkt brach ein und am Anleihenmarkt zogen die Renditen deutlich an.