SPD-Chef Lars Klingbeil: „Es geht um die Aufholjagd“

In der ersten Etage des Reichstagsgebäudes, wo die Abgeordneten in den Plenarsaal gelangen, befinden sich an der östlichen Seite kleine Büros. Hier treffen wir Lars Klingbeil zum Interview. Der SPD-Chef hat das Gespräch vom Willy-Brandt-Haus in den Bundestag verlegt, damit er vorher an dem Gedenken zum Massaker der Hamas an Israelis vor einem Jahr teilnehmen kann. Wir sprechen mit Klingbeil über die Strategie, wie die Sozialdemokraten 2025 in dem bisher wohl härtesten Bundestagswahlkampf das Kanzleramt vereidigen wollen. Sie haben nach dem Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen von SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert gesagt, Politik sei nicht alles. Was ist für Sie persönlich Politik? Politik ist meine große Leidenschaft. Ich habe das Privileg, dass ich mein Hobby zum Beruf machen konnte, und quasi als Junge vom Dorf Vorsitzender der ältesten demokratischen Partei Europas werden durfte. Können Sie sich ein Leben ohne Politik vorstellen? Ja, denn es gibt Momente im Leben, da sind andere Sachen wichtiger. Gesundheit geht vor. Wann haben Sie davon erfahren, dass Herr Kühnert aufhören wird? Kevin hat Saskia Esken und mich an dem Wochenende informiert, dass er am Montag zurücktreten wird. Ich verrate aber kein Geheimnis, wenn ich sage, dass wir befreundet sind und ich durchaus in der Zeit davor schon gemerkt hatte, dass es ihm nicht gut geht. Fällt das in die Zeit, als Sie nach den schlechten Ergebnissen bei der Europawahl und den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen ankündigten, sich in das Management des Bundestagswahlkampfs einzuschalten? Viele versuchen, das als Machtkampf in der SPD zu interpretieren. Das ist falsch. Kevin und ich haben immer die Kraft gehabt, alles solidarisch miteinander zu besprechen. Dieser Stil zeichnet uns aus. Und jetzt gebietet es sich, Kevin als Privatperson in Ruhe zu lassen und ihm die Möglichkeit zu geben, sich zu 100 Prozent um seine Gesundheit zu kümmern. Kommen wir zu den Sachthemen: Was wird aus dem umstrittenen Kabinettsbeschluss zur 1.000-Euro-Durchhalteprämie für Langzeitarbeitslose, die ein Jahr lang im Job geblieben sind? Hinter die 1.000-Euro-Prämie mache ich ein riesiges Fragezeichen. Diese Akzentsetzung ist falsch. Nicht alles, was die Regierung beschlossen hat, muss vom Parlament verabschiedet werden. Arbeit ist dann attraktiv, wenn die Menschen vernünftig Geld verdienen. Deswegen kämpfen wir für einen höheren Mindestlohn, Tarifbindung, stabile Renten, sichere Arbeitsplätze für die, die dieses Land am Laufen halten. Am Sonntag und Montag kommt der SPD-Vorstand zu einer Strategieklausur für den Bundestagswahlkampf zusammen. Welche Schwerpunkte wollen Sie setzen? Es geht darum, die Aufholjagd vorzubereiten, die Körperhaltung für den Wahlkampf anzunehmen und den Fokus auf die Frage zu richten, wer dieses Land in Zukunft führen soll. Die SPD oder die Merz-CDU. Rechnen Sie nicht damit, dass die Frontfrauen von AfD und BSW, Alice Weidel und Sahra Wagenknecht, die Aufmerksamkeit von den Männern von SPD, Union und Grünen abziehen werden? Wer hat eine realistische Chance, dieses Land zu führen? Das sind Olaf Scholz und Friedrich Merz. Und auf diese Auseinandersetzung freue ich mich sehr. Die Frage ist: Wer von beiden hat die besseren Konzepte für die Zukunft dieses Landes, für einen neuen Aufschwung, für Wachstum, für eine Wirtschafts- und Industriepolitik, die in diesem Land Arbeitsplätze sichert und neue schafft? Aber dafür ist die Ampel-Regierung von Olaf Scholz nicht der beste Ausweis. Im dritten Quartal dieses Jahres gab es die meisten Firmenpleiten seit der Finanzkrise. Die Stimmung im Land ist schlecht, die politischen Gewichte verlagern sich an die Ränder. Wir haben Krisen, das stimmt. Bei Volkswagen, ZF, ThyssenKrupp. Und da schauen wir auch realistisch drauf. Wir tun alles dafür, dass Deutschland ein starkes Land bleibt, dass der Stolz auf Made in Germany zurückkommt. Dafür braucht es eine starke Industrie mit sicheren Arbeitsplätzen. Und das heißt, wir müssen mehr Investitionen ermöglichen, die Energiepreise runter bekommen und dafür sorgen, dass Deutschland funktioniert. Friedrich Merz sagt, dafür müssten sich die Beschäftigten halt einfach mal mehr anstrengen und der Staat soll sich gefälligst zurückhalten. Das sehen wir ganz anders. Wir brauchen einen neuen Aufschwung, von dem alle profitieren und nicht nur wenige. Ihnen kann aber egal sein, was Friedrich Merz sagt. Die Ampel regiert. Sie können einfach tun, was Sie für richtig halten. Wir tun das, was wir für richtig halten, indem wir uns jetzt vorrangig um die Energiepreise kümmern. Der Kanzler hat gesagt, dass er um jeden Industriearbeitsplatz in diesem Land kämpfen wird. Das treibt ihn an. Was genau? Kommt der Industriestrompreis doch? Der Kanzler wollte ihn nicht. Olaf Scholz sieht, dass die Energiepreise für die Unternehmen nicht wettbewerbsfähig sind und wir günstige Energiepreise brauchen. Er hat deshalb ja Maßnahmen für ein Industriestrompreis-Paket angekündigt. Ich glaube, dass wir außerdem Kaufanreize für Elektro-Fahrzeuge brauchen. Schon wieder Prämien? Die Zukunft liegt in der Elektromobilität. Das Wichtigste ist, das sagt auch der Betriebsrat von Volkswagen, dass die Politik hier nicht wackelt – so wie Friedrich Merz, der sich mit seinem undurchdachten Populismus wie der Totengräber der deutschen Automobilindustrie aufführt. Er gefährdet damit Tausende Jobs hier bei uns. Seit Monaten kommt die SPD aus ihrem 15-Prozent-Umfrage-Loch nicht heraus. Welches Wunder muss geschehen, dass die Sozialdemokratie noch einmal nach vorne kommt. Oder ist nicht schon in ihrer Existenz bedroht? Ich glaube nicht an Wunder, sondern an harte Arbeit. Die SPD braucht eine Körperhaltung des Siegeswillens. Und das ist auch meine Aufgabe, als Parteivorsitzender voranzugehen. Das ist für unsere Klausur am Sonntag und Montag wichtig. Alle schauen gerade auf die Ampel, aber ich möchte, dass wir als SPD anfangen, gemeinsam zu marschieren.

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