Auf der Suche nach einer Strategie: Die Nato ist so ratlos wie nie

Kurz vor Ostern leistete sich Alexander Lukaschenko eine weltpolitische Frechheit. Der Diktator von Belarus ließ am helllichten Tag einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg proben: einen Überfall auf Nato-Mitglied Polen. Am 26. März besuchte Lukaschenko die belarussischen Truppen nahe dem Suwalki-Korridor. Die Region gilt als Schauplatz möglicher militärischer Kraftproben am ersten Tag eines dritten Weltkriegs. Denn hier könnten Truppen aus Belarus und Russland die Nato an einem schwachen Punkt treffen und den Landweg zwischen Polen und den drei baltischen Republiken abriegeln. Lukaschenko ging mit dem Thema offen um. Er ließ sein Staatsfernsehen antreten und die Szenen weltweit auf sozialen Netzwerken verbreiten. Da sieht man dann den starken Mann aus Minsk, wie er, neben sich seinen übergewichtigen Schoßhund Umka, ganz lässig über das Suwalki-Szenario redet – auch darüber, dass man beim Vorstoß Richtung Ostsee dem Nato-Land Polen etwas von seinem Staatsgebiet abzwacken müsse. &bdquo;Und Sie nehmen sich einen Teil Polens vor?“, fragt Lukaschenko leutselig den belarussischen Generalmajor Alexander Naumenko. Der bejaht zackig: &bdquo;Einen kleinen Teil.“ Der Uniformierte fügt untertänigst hinzu: &bdquo;Alle Aktionen sind geplant, die Fragen der Kampfbereitschaft werden ausgearbeitet, die Truppen werden vorbereitet.“ Was ist das? Nur eine Übung? Ein böser Spuk? Eine Provokation des Westens kurz vor dem 75. Jubiläum der Nato am 4. April 2024? Im Hauptquartier der westlichen Allianz blickt man, ohne es laut zu sagen, mit Sorge auf die Tonlage von Lukaschenko. Denn so, wie der jetzt auftritt, stimmen Diktatoren ihre Bevölkerung auf Kriege ein. Tagesthemen sind Todesthemen Moskau macht es seit Langem vor. In Putins Staatsfernsehen werden die Nachbarn im Westen nicht mehr als mögliche Gesprächspartner dargestellt, sondern nur noch als Ziele, die man ins Visier nimmt. Den Ukrainern wird das Menschsein abgesprochen. Von Putins Lieblingskommentator Wladimir Solowjow stammt der Satz: &bdquo;Wenn ein Arzt eine Katze entwurmt, ist es für den Arzt eine Spezialoperation, für die Würmer ist es ein Krieg und für die Katze ist es eine Reinigung.“ Rufe nach der Massenvernichtung von Menschen gehören in Moskau zum üblichen Abendprogramm. Immer wieder sind Russlands Tagesthemen Todesthemen. Am 27. März empfahl auf Russia 1 der Militärexperte Vladislav Shurygin, ukrainische Städte &bdquo;komplett auszulöschen“, dort nämlich wohnten die Frauen, Kinder und Eltern der ukrainischen Soldaten, und man müsse nun mal &bdquo;gegen das ganze Pack“ vorgehen. Am 28. März forderte Russia-Today-Kommentator Vladislav Ugolny die Eliminierung der ukrainischen Bevölkerung mit biologischen oder chemischen Waffen, warb aber dafür, historische Gebäude stehenzulassen. Am 29. März sagte Solowjow, die Großstädte Kiew und Charkiw müssten &bdquo;vom Erdboden getilgt werden“. Auch Nato-Staaten werden bedroht Auch Nato-Staaten werden ausdrücklich bedroht. Jüngst erst wurden im russischen Staatsfernsehen die Fehmarnsundbrücke und die Kölner Hohenzollernbrücke als mögliche Ziele russischer Raketenangriffe vorgestellt. Parallel dazu steigert Russland Hohn und Spott gegenüber westlichen Politikern. Kanzler Olaf Scholz wird als Nachfahre Adolfs Hitlers dargestellt. Und sogar der Prostatakrebs von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin wurde zum Propagandathema: Genüsslich breitete Putins Staatsfernsehen aus, Austin sei nach einer Operation inkontinent und müsse Windeln tragen. Das antiwestliche Dauerfeuer hat System. Es lässt Russland nach innen und außen stärker erscheinen, als es ist. Putins Landsleute erleben sich und ihren Anführer als übermächtig, geradezu erhaben. Der Westen dagegen spürt in sich selbst eine wachsende Angst vor einem derart gruseligen Russland. Laut Institute for the Study of War (ISW) ist Putins Psychokrieg &bdquo;Russlands einzige Hoffnung auf Erfolg“. Militärisch und ökonomisch nämlich drohe der russischen Regierung, wenn der Westen seine Hilfen für Kiew fortsetze, in der Ukraine auf Dauer eine Überforderung. Putin schlägt immer neue Bälle Tatsächlich liegt Putins Plan klar zutage. Er will, dass sich Defätismus ausbreitet in den Nato-Staaten. Deshalb erzwang er im Januar einen russischen Sieg im ukrainischen Awdijiwka, unter extremen Opfern für die russischen Soldaten. Im Februar folgte, pünktlich zur Münchner Sicherheitskonferenz, der für den Westen ebenfalls deprimierende Tod Alexej Nawalnys. Im März sorgte Putin mit dem Taurus-Leak, der Veröffentlichung interner Gespräche hochrangiger deutscher Offiziere, für Aufregung. Im weiteren Verlauf dieses Jahres will Putin sich drei politische Druckpunkte zunutze machen: Europawahlen Bei den Europawahlen Anfang Juni sollen die von Russland unterstützten rechtspopulistischen Parteien erstarken und die bisherigen Pro-Kiew-Mehrheiten erschüttern, auf die sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stets stützen konnte. Landtagswahlen Bei den drei Landtagswahlen in Ostdeutschland (Thüringen und Sachsen: 1. September, Brandenburg: 22. September) soll die moskautreue AfD zur stärksten Kraft werden und damit auch bundesweit mehr Einfluss gewinnen. US-Wahl Bei der Wahl in den USA (5. November) soll der schon 2016 von Moskau massiv unterstützte Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehren und die in seiner ersten Amtszeit nicht ganz vollendete Spaltung der Nato endgültig in die Tat umsetzen. Und was ist angesichts dieser nie da gewesenen Bedrohungslage die Strategie der Nato? Wer hinter der fröhlichen Kulisse der 75-Jahr-Feier nachfragt, stellt fest: Es gibt keine Strategie der Nato, jedenfalls keine vergleichbare und erst recht keine gemeinsame. Während Putin dem Westen immer neue Bälle rüberschlägt, weiß die Nato nicht, was sie tun soll – außer mal auf diese und mal auf jene Weise hektisch zu reagieren und dem Ball hinterherzulaufen. Wer führt, wer kommuniziert? Der Militärexperte Nico Lange, Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz, schlägt deshalb schon Alarm: &bdquo;Zur Zeitenwende gehört, dass wir uns mit bloßer Taktik pur nicht mehr durchmogeln können. Wir brauchen jetzt eine Strategie.“ Aber wie soll die aussehen? Zwar eint die mittlerweile 32 Nationen des westlichen Bündnisses eine stolze Geschichte. Die westliche Allianz ist heute sogar so groß und so mächtig wie noch nie. Zugleich aber wurde sie auch noch nie so sehr herausgefordert. Und ihre innere Unentschlossenheit mit Blick auf Russland wirft immer neue Fragen auf. Ermattung und Frust greifen um sich. Rolf Mützenich (SPD), ein Mann ohne großen Namen, aber immerhin Chef der größten Parlamentsfraktion im wirtschaftlich wichtigsten Nato-Land Europas, bringt bereits ein &bdquo;Einfrieren“ des Kriegs ins Gespräch – ein unnötiger Bruch mit der Nato-Linie, darauf zu beharren, dass die russischen Truppen die Ukraine verlassen. Strategische Weisheit, klarer Fall, geht anders. Doch im Westen gehört das Spiel von Politikern aufs eigene Tor zum Alltag. In den USA verschafften die Trumpisten Russland in den ersten Monaten des Jahres einen Triumph, indem sie ein Hilfspaket für die Ukraine im Repräsentantenhaus bremsten. Neuerdings fassen sie die Zustimmung ins Auge, aber nur, wenn aus den geplanten Zuschüssen Darlehen werden. Die Nato kam immer wieder zu spät Tatsächlich wächst auf beiden Seiten des Atlantiks inzwischen der Widerwille, für die Ukraine immer neue Opfer zu bringen. In Polen stellen Landwirte sich quer gegen ukrainische Weizenexporte. In Frankreich und Deutschland wird das Murren über die Russland-Sanktionen lauter. Das habe doch alles nichts gebracht, sagen rechte und linke Kritiker im Gleichklang. Die wahre Analyse sieht differenzierter aus. &bdquo;Die Sanktionen haben den Aufbau der russischen Rüstungsindustrie gebremst“, sagt Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik. &bdquo;Das Problem ist, dass wir als Westen den daraus resultierenden Zeitvorteil nicht genutzt haben.“ Tatsächlich kam die Nato immer wieder zu spät. Panzer wurden nach monatelangen Debatten erst geliefert, als die russischen Invasoren sich in der Ukraine schon tief eingegraben hatten. Neue Kapazitäten zur Munitionsproduktion wurden erst geschaffen, als die alte Munition zu Ende ging. Und die F16-Kampfflugzeuge für die Ukraine lassen immer noch auf sich warten – dabei wären sie dringend nötig, um die russischen Bomber auf Distanz zu halten, die dieser Tage monströse Gleitbomben über ukrainischen Bevölkerungszentren ausklinken. Wer übernimmt die Führung bei der Nato? Wer aber kommuniziert am Ende all diese Zusammenhänge? Und wer übernimmt damit die Führung in der auf dem Papier mächtigen, aber de facto planlos wirkenden westlichen Staatengemeinschaft? Überfällig wäre eine Debatte darüber, wie die Nato in die Vorhand kommen könnte. Der frühere Diplomat Wolfgang Ischinger empfiehlt, eine Beziehung herzustellen zwischen russischen Attacken auf zivile Ziele und künftigen westlichen Waffenlieferungen. &bdquo;Putin muss wissen: Wenn er wieder Wohnblocks angreift, legen wir drauf.“ In westlichen Denkfabriken wird auch an weiteren Ideen gebastelt. Manche raten zu einem Ultimatum an Moskau mit Blick auf den Abzug der Truppen. Andere entwerfen Szenarien von Streiks in russischen Rüstungsbetrieben, bei denen der Westen die Streikkasse füllt. Was auch immer geschieht – Putin weiß: Der Westen tritt ihm stets mit einer schon strukturell bedingten inneren Spaltung gegenüber. Die Nato kann als reines Militärbündnis keine Wirtschaftssanktion verhängen. Die EU kann keinen einzigen Schuss abgeben. Putins eiskalter Griff nach Westen Europäische Gipfel wiederum, da wird es dann vertrackt, brauchen oft einstimmige Beschlüsse. Wenn es gegen Moskau ging, gab es immer wieder Bremser. Mal war es das mit Moskau ökonomisch weiterhin eng verbandelte Ungarn. Mal war es auch Österreich, ein EU-Land, das nicht der Nato angehört und dessen staatliche Stellen in ungewöhnlich starker Weise durchsetzt sind von russischen Agenten. Anfang April flog auf, dass Putin in Wien sogar Leute im Verfassungsschutz beschäftigt hat. Es war ein Hinweis auf seinen eiskalten Griff nach Westen – den viele noch immer nicht wahrhaben wollen.

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