Zerfallende Linkspartei: Wer hat Lust auf den Schleudersitz an der Spitze?

Wenn die Bundestagsfraktion der Linken an diesem Mittwoch in Berlin zu ihrer Klausur zusammenkommt, dann stehen zwar mehrere Themen auf der Agenda, in Wirklichkeit dürfte es aber nur um eine einzige Frage gehen: Mit wem an der Spitze kann die Fraktion überleben? Seitdem die beiden amtierenden Fraktionsvorsitzenden Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch bekannt gegeben haben, bei der anstehenden Wahl am 4. September nicht wieder für den Vorstand kandieren zu wollen, herrscht Ratlosigkeit innerhalb der Partei. Wer soll jetzt diesen Job machen, der derzeit keineswegs einen Karrieresprung darstellt, sondern ebenso unattraktiv wie undankbar ist? &bdquo;Wer die Herausforderung übernimmt, muss sich bewusst sein, dass er oder sie es unter Umständen nicht sehr lange machen wird“, sagt Bartsch im Gespräch mit dieser Redaktions und fügt hinzu: &bdquo;Man braucht gute Nerven, wie zu Beginn der 1990er-Jahre, als die Partei immer wieder totgesagt worden ist.“ Leute mit Stehvermögen hat die 39-köpfige Linksfraktion zweifellos noch, aber der Laden ist heillos zerstritten und zerfällt faktisch in drei etwa gleich große Lager: Die Modernisierer Da sind einmal die sogenannten Bewegungslinken um Parteichefin Janine Wissler, die die Partei grundlegend modernisieren wollen und vor allem auf junge klimabewegte urbane Wählerschichten setzen, denen die Grünen nicht gut genug sind. Wissler kann sich dabei auf den ehemaligen Parteichef Bernd Riexinger ebenso stützen wie auf jüngere Mitstreiterinnen, wie etwa Caren Lay, Clara Bünger, Martina Renner oder Anke Domscheit-Berg. Das Wagenknecht-Lager Dann ist da das Lager um die sehr populäre Sahra Wagenknecht, hinter der gestandene Mitstreiter stehen, wie Alexander Ulrich, Sevim Dagdelen, Klaus Ernst und wohl auch Mohamed Ali. Sie werfen der Wissler-Gruppe eine Vernachlässigung der sozialen sowie eine Überbetonung der Klimafrage vor. Die alten Kämpfer aus der Ost-PDS In der Mitte agieren vornehmlich die alten Kämpfer aus der Ost-PDS, die 2007 mit der westdeutschen WASG zur Linken fusionierte. Hier sind Gregor Gysi und Dietmar Bartsch und wohl auch Gesine Lötzsch und Sören Pellmann zu nennen. Sie stehen für einen weniger ideologischen und eher pragmatischen Kurs und waren bisher bemüht, die Fraktion über alle Streitigkeiten hinweg zusammenzuhalten. Die für eine Wahl zum Fraktionsvorsitz notwendigen 20 Stimmen wird kein Lager allein aufbringen, jede Strömung ist auf Schützenhilfe aus einer anderen Gruppe angewiesen. &bdquo;Es wird für jeden, der antritt, nicht einfach, es ist eine sehr verfahrene Situation“, sagt Wagenknecht-Anhänger Alexander Ulrich. Er meint, dass die Parteispitze &bdquo;inhaltlich den Kompass völlig falsch ausgerichtet“ hat. &bdquo;Dass man glaubt, mit einer noch radikaleren Klimapolitik bei den Wählern punkten zu können oder mit der Forderung nach offenen Grenzen und noch mehr Zuwanderung, wofür ja auch die Nominierung von Carola Rackete als Spitzenkandidatin zur EU-Wahl steht, dem kann ich nicht folgen“, sagt Ulrich, der seit 18 Jahren im Bundestag sitzt. Mitte Juli hatte die Parteiführung die parteilose Klimaschutz- und Flüchtlingsaktivistin Carola Rackete als Zugpferd für die EU-Wahl präsentiert und damit ihre strategische Grundausrichtung erneut unterstrichen. Um die ewigen Streitigkeiten zwischen Fraktions- und Parteispitze auszuräumen, könnte Wissler jetzt selbst nach der Macht greifen und versuchen, den Laden aus einer Hand zu steuern. Die Parteiführung hat ein Vorschlagsrecht. Aber: Es ist keineswegs sicher, dass sie die notwendigen 20 Stimmen bekommt. Würde sie scheitern, würde das auch ihr Image als Parteichefin beschädigen. Für das Wagenknecht-Lager steht fest: &bdquo;Wenn Janine Wissler Fraktionschefin wird, wird das den Abwärtstrend eher noch einmal beschleunigen“, sagt Ulrich. &bdquo;Gerade die Fraktion war bisher ein wichtiger Pool als Korrektur zum verheerenden Kurs der Parteiführung. Das wäre dann dahin.“ Aus Sicht des ehemaligen Parteichefs Klaus Ernst (2010–2012) muss eine Person gefunden werden, &bdquo;die von ihrer Persönlichkeit und von ihren politischen Ansichten her eher für einen Zusammenhalt der Fraktion steht und nicht für ein weiteres Spalten“. &bdquo;Insofern kann ich mir Frau Wissler nicht vorstellen, es müsste jemand sein, der neutral wirkt und in den beiden Gruppe nicht exponiert ist“, sagt Ernst. Die Bartsch-Gruppe ist nicht homogen Bernd Riexinger, der von 2012 bis 2021 zusammen mit Katja Kipping den Parteivorsitz innehatte, betont, man brauche jetzt an der Fraktionsspitze &bdquo;Persönlichkeiten, die klar für einen Verbleib bei der Linken stehen und bereit sind, eng mit der Parteiführung zusammenzuarbeiten, und nicht in Opposition zu ihr stehen, wie das bislang häufig der Fall war“. Riexinger spielt damit auch auf die seit Monaten von Wagenknecht angedrohte Abspaltung und Neugründung einer anderen Partei an. Aus seiner Sicht wird die entscheidende Frage sein, ob es den beiden Gruppen, die für einen weiteren Zusammenhalt der Fraktion stehen, gelingen wird, sich zusammenzuraufen. Das ist möglich, aber keineswegs sicher, denn die Bartsch-Gruppe ist nicht homogen und auch dort gibt es Kräfte, die mindestens mit Wagenknecht sympathisieren. So wäre es auch möglich, dass ein Gespann zum Zuge kommt, das völlig ohne Stimmen aus dem Wissler-Lager gewählt wird. Riexinger warnt davor: &bdquo;Es wäre ein Riesenfehler, jetzt eine Fraktionsspitze zu wählen, die sich auf Stimmen aus dem Lager von Sahra Wagenknecht und aus dem Reformerflügel um Dietmar Bartsch stützt. Das wäre keine tragfähige Lösung, weil dann die Auseinandersetzungen zwischen Partei und Fraktion weitergehen würden.“ Gefahr der Abspaltung Erschwerend kommt hinzu, dass potenzielle Kandidaten nicht wissen, wie lange sie diesen Job überhaupt machen dürfen. Wagenknecht hat angekündigt, bis Jahresende zu entscheiden, ob sie eine neue Partei gründet. Wenn sie das tut, fliegt die Linksfraktion auseinander und sackt auf einen Gruppenstatus im Bundestag ab. Das bedeutet weniger Geld, weniger Redezeit, weniger Einfluss. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Abspaltung kommt, hält sowohl Bartsch als auch Riexinger für sehr groß. &bdquo;Die Wagenknecht-Anhänger sitzen schon auf gepackten Koffern“, sagt Riexinger und setzt fort: &bdquo;Die Dinge sind jetzt so weit vorangetrieben worden, dass ein Rückzug Wagenknechts kaum noch ohne größere Beschädigung ihrer Person vonstattengehen könnte.“ In Parteikreisen ist davon die Rede, dass ein kleiner Zirkel ehemaliger Sozialdemokraten um Wagenknechts Ehemann Oskar Lafontaine damit befasst ist, die Chancen und Risiken einer Neugründung abzuklopfen. Lafontaine wollte sich auf Nachfrage dazu nicht äußern: &bdquo;Da müssen Sie andere fragen, die noch drin sind“, sagte er, der im Frühjahr selbst aus der Linken ausgetreten ist. Bartschs Rücktritt als Zeichen von Perspektivlosigkeit? Wenn mehr oder weniger alle davon ausgehen, dass es zur Abspaltung kommt, dann wird der neue Fraktionsvorsitz ein Posten mit sehr begrenzter Dauer. &bdquo;Wer tut sich das an, mit der Gefahr, dass er ein paar Wochen später das Licht ausmachen muss?“, fragt Alexander Ulrich. Er war davon ausgegangen, dass Bartsch noch einmal antritt. &bdquo;Sein Rückzug ist aus meiner Sicht auch Ausdruck einer gewissen Perspektivlosigkeit“, sagt Ulrich und weiß sich damit auf einer Linie mit Wagenknecht-Anhängerin Sevim Dagdelen. &bdquo;Der Rückzug der Fraktionsvorsitzenden zeigt, dass die Parteispitze mit ihrem Kurs, die irrsinnigen Russland-Sanktionen der Ampel und den teuren Klimaaktivismus der Grünen überbieten zu wollen, statt die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung zu vertreten, immer mehr vernünftige Leute innerhalb der Partei vergrault“, meint Dagdelen. Die Linke müsse zurück zum Gründungskonsens und Programm der Partei. &bdquo;Statt Politik für eine immer kleiner werdende Splittergruppe zu machen, gehören die Interessen und Sorgen der normalen Bürger ins Zentrum gerückt“, sagt Dagdelen. Wer immer antritt, wird es nicht leicht haben Das klingt im Vorfeld der Klausur nicht unbedingt versöhnlich, und so wird, wer immer auch antritt, es nicht leicht haben. Denkbar wäre ein Gespann aus der niedersächsischen Abgeordneten Heidi Reichinneck und dem Ostbeauftragten der Fraktion, dem Leipziger Sören Pellmann. Beide waren allerdings schon beim Parteitag im Juni 2022 in Erfurt gescheitert, als sie nach dem Parteivorsitz gegriffen und gegen Wissler und Martin Schirdewan verloren hatten. Reichinneck und Pellmann galten als Gegenentwurf der Fraktionsspitze um Bartsch. Riexinger sagt heute dazu: &bdquo;Eine von der Fraktionsspitze unterstützte Gegenkandidatur zu initiieren, das war nicht besonders seriös. Dort wurde die Machtfrage gestellt, und das ist verloren gegangen.“ Bei den Spekulationen wird auch immer wieder Gesine Lötzsch genannt, die bei der Bundestagswahl 2021 neben Gysi und Pellmann eines der drei lebenswichtigen Direktmandate holte, ohne welche die Linke schon längst nicht mehr in Fraktionsstärke im Bundestag säße, weil sie nur 4,9 Prozent erreichte. Aber intern heißt es, sie habe schon abgewinkt, wie auch viele andere wenig Neigung erkennen lassen, sich &bdquo;das anzutun“. Klaus Ernst gibt sich dennoch optimistisch: &bdquo;Ich denke schon, dass sich da noch jemand finden wird“, sagt er und fährt fort, es gebe schon noch den einen oder anderen, dem man das zutrauen könnte. Kehrt Gysi zurück? Er müsse den Job können und Gewähr dafür bieten, dass er neutral ist. Allerdings: &bdquo;Es wird nicht mit jemandem gehen, der eins zu eins die Meinungen der Parteivorsitzenden exekutiert“, so Ernst. Wer das alles könnte, ist sicherlich der bisherige Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Jan Korte. Aber auch er hatte schon im Frühjahr angekündigt, &bdquo;aus persönlichen Gründen“ nicht mehr für den Vorstand kandidieren zu wollen. Ob Korte dies im Lichte von Bartschs Rückzug noch einmal anders sieht, ist unklar. Eine Option, auf die sich mehr oder weniger alle einigen könnten, wäre Urgestein Gregor Gysi, der heute außenpolitischer Sprecher der Fraktion ist und alles schon einmal war: Gründungsvater, Vorsitzender, Fraktionschef. Gysi hat zwar im Zuge der monatelangen Streitereien mehrfach angekündigt, um sein Lebenswerk bis zum Ende kämpfen zu wollen. Aber der Mann ist inzwischen 75 Jahre alt, und dass er Lust hat, sich auf seine alten Tage diesen Schleudersitz noch einmal anzutun, darf bezweifelt werden.

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