Kinderarmut

"So kann Teilhabe kaum gelingen": Kritik an gestutzter Kindergrundsicherung

Die Ampelkoalition hat sich nach monatelangem Streit auf eine neue Sozialleistung geeinigt. Der Sozialverband VdK warnt nun vor einer ungenügenden Ausstattung.

Familienministerin Lisa Paus mit Sozialminister Hubertus Heil (l.) und Finanzminister Christian Lindner. | © picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

28.08.2023 | 28.08.2023, 18:48

Berlin/Bielefeld. Die von der Bundesregierung vereinbarte Kindergrundsicherung ist aus Sicht des Sozialverbands VdK Nordrhein-Westfalen eine Enttäuschung. "Die Einigung auf 2,4 Milliarden Euro sehen wir kritisch", sagte VdK-Landesgeschäftsführer Thomas Zander dieser Redaktion. "Der Betrag ist auf ein Fünftel der ursprünglichen Forderung von Ministerin Paus zusammengeschmolzen – gesellschaftliche Teilhabe von armen Kindern und Jugendlichen kann so kaum gelingen."

Die Ampelkoalition hatte sich nach monatelangem Streit auf die Kindergrundsicherung geeinigt. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) zufolge werden für die Einführung der neuen Sozialleistung im Jahr 2025 zunächst 2,4 Milliarden Euro Mehrkosten veranschlagt. Bis zu 5,6 Millionen armutsbedrohte Familien und ihre Kinder erhielten die Hilfen einfacher und direkter. Darunter seien Millionen, die bislang nicht wüssten, dass sie ihnen zusteht. "Die Kindergrundsicherung", sagte Paus, "ist unsere Antwort auf Kinderarmut in Deutschland."

Zunächst hatte Paus zwölf Milliarden Euro jährlich für die Sozialreform gefordert. Finanzminister Christian Lindner (FDP) nannte als "Merkposten" eine Summe von nur zwei Milliarden Euro. Lindner sprach nach der Einigung davon, dass es keine Leistungsverbesserungen für Eltern geben werde, die nicht erwerbstätig seien. Der beste Weg, Armut zu überwinden, sei Arbeit.

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"Armut aus der Kindheit setzt sich häufig fort"

Der VdK warnte vor einer ungenügenden Ausstattung der Kindergrundsicherung. "Was heute versäumt wird, fällt uns morgen auf die Füße", sagte Zander. "Armut aus der Kindheit setzt sich häufig bis ins Erwachsenenalter fort."

Der Städte- und Gemeindebund NRW begrüßte die Einigung der Ampelkoalition. "Noch besser aber wäre es, wenn die Leistungen zielgerichtet eingesetzt würden", kritisierte der Vizepräsident und Stemweder Bürgermeister Kai Abruszat (FDP). "Wir brauchen kein neues Bürokratiemonster, sondern treffsichere Maßnahmenpakete, die vor Ort wirklich helfen."

Paul geißelt Lindners "spartanische Vorstellung"

Nordrhein-Westfalens Familienministerin Josefine Paul erklärte die Kindergrundsicherung zu einem "wichtigen Signal im Kampf gegen Kinderarmut". Angesichts der finanziellen Ausstattung sieht die Grünen-Politikerin jedoch "einen Wehrmutstopfen", weil sich weniger an den familien- und sozialpolitischen Notwendigkeiten als an der "sehr spartanischen Vorstellung des Finanzministers orientiert" worden sei.

Das Sozialprojekt geht jetzt in die Länder- und Verbändeanhörung. "Die Frage muss gemeinsam mit Ländern und Kommunen auf den Weg gebracht werden", sagte Paul, „und das auf eine Art und Weise, die es Ländern und Kommunen ermöglicht, die Kindergrundsicherung einfach und schnell umzusetzen.“

KOMMENTAR DER REDAKTION


Kampf gegen Kinderarmut: Abgeprallt am Kassenwart

Hoch angesetzt, hart aufgeschlagen – so kann man das Verhandlungsergebnis für Lisa Paus interpretieren. Die grüne Familienministerin hatte zwölf Milliarden Euro zur Finanzierung der Kindergrundsicherung veranschlagt. Finanzminister Christian Lindner (FDP) setzte als "Merkposten" lediglich zwei Milliarden Euro an, für das Jahr 2025 wohlgemerkt. Geeinigt hat sich die Ampelkoalition jetzt auf einen Betrag, der nur leicht über dem Erinnerungswert liegt: 2,4 Milliarden. Gegen dieses Ergebnis wirkt Paus' ursprüngliche Forderung wie ein Fantasiegebilde.

Mit der Kindergrundsicherung, das sagte die Ministerin nun ernsthaft, habe die Bundesregierung "eine Antwort auf Kinderarmut in Deutschland gefunden". Sozialminister Hubertus Heil (SPD) behauptete, dass nach dem Koalitionsstreit über die neue Sozialleistung nicht eine Partei "gewonnen" habe, sondern die Kinder in Deutschland.

Fraglich, ob das wirklich so ist. Wie es gerade aussieht, ist Ministerin Paus an Minister Lindner abgeprallt, der sich seit Monaten als eiserner Kassenwart präsentiert. Die Hilfe für Kinder und Jugendliche soll einfacher zugänglich sein als die bisherigen Modelle, die Staatsausgaben aber sollten nicht allzu spürbar steigen.

Lindner geht es um Arbeitsanreize – vor allem für Migranten

Zu den wenigen positiven Punkten dieser Einigung gehört, dass die Kindergrundsicherung mehrere Leistungen zusammenfasst, vom Kindergeld über den Kinderfreibetrag bis hin zu Geld- und Sachleistungen zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe. Auch die Informationspflicht über die Ansprüche durch den Staat ist eine Verbesserung. Längst nicht sichergestellt ist aber, dass Kinder durch das neu geschaffene Modell Bildungsdefizite aufholen oder dass sie kulturell gefördert werden.

Lindner geht es um den Arbeitsanreiz – vor allem für Menschen mit Migrationsgeschichte. Was er damit suggeriert: Kinderarmut sei primär ein Problem von ausländischen Familien. Einige finden das perfide, sogar schäbig.

Der Hinweis nach einem möglichen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut sollte im politischen Meinungsstreit gestattet sein. Tatsächlich ist die Zahl der Minderjährigen in Bedarfsgemeinschaften gesunken, die eine deutsche Staatsangehörigkeit haben; die der ausländischen Minderjährigen stieg in den vergangenen acht Jahren.

In NRW ist der Handlungsdruck noch einmal größer

In Nordrhein-Westfalen ist der Handlungsdruck noch größer als jenseits der Landesgrenzen – gemessen an der Kinderarmutsgefährdungsquote rangiert NRW hinter Bremen auf Platz zwei. Armut von Kindern und Jugendlichen sollte gerade hier losgelöst von Herkunft angegangen werden. Sonst gehen diesem Land seine Kinder verloren.