DFB-Präsident Neuendorf: "Katar könnte eine Wohnzimmer-WM werden"

Herr Neuendorf, an diesem Montag reisen Sie mit Innenministerin Nancy Faeser nach Katar. In drei Wochen startet die WM. Das Interesse an dem Turnier und der Nationalelf wirkt aber gering. Wie groß ist Ihre Sorge? Bernd Neuendorf: Ihren Eindruck im Hinblick auf die Nationalelf teile ich nicht. Wir hatten erst kürzlich ein ausverkauftes Heimspiel gegen Ungarn in Leipzig. Das Team hat unter der Führung von Hansi Flick wieder neues Interesse entfacht und viele Sympathien gewonnen. Er hat eine Mannschaft geformt, in der Zusammenhalt und Leidenschaft zählen, in der man füreinander einsteht und in der sich trotzdem jeder Spieler individuell entfalten kann. Ich glaube, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer das auch spüren. Sie merken, ob da ein Team auf dem Platz steht und funktioniert. Glauben Sie deshalb wirklich an Public Viewing am Glühweinstand? Das wird wahrscheinlich auch von unserem Start in das Turnier abhängen. Wenn die Mannschaft begeisternd auftritt, halte ich auch im Winter eine WM-Euphorie für möglich. Vielleicht wird sich das aber nicht am Glühweinstand zeigen, sondern eher als Wohnzimmer-WM – denn die dunkle Jahreszeit hat traditionell die höchsten Einschaltquoten. Angesichts des Gastgebers Katar blicken viele Menschen aktuell aber doch eher distanziert auf das Turnier. Skepsis angesichts der Menschenrechtssituation ist verständlich. Man muss aber auch sagen: Auf den Ticketverkauf hat es sich nicht außergewöhnlich ausgewirkt. Nach Deutschland wurden nach Angaben der FIFA bisher mehr als 35.000 Karten verkauft – das liegt ungefähr im Durchschnitt vergangener Turniere und ist international Platz zehn. Und wenn wir den Blick weiten: Im Mittleren Osten, in den USA und auch in Südamerika gibt es offenkundig ein großes Interesse an dem Turnier. Ich erwarte daher im Hinblick auf die Besucherzahlen nicht unbedingt einen Misserfolg dieser WM. In Deutschland fällt das Turnier allerdings in eine schwierige Phase mit Energiekrise, Inflation und verschiedenen Protestbewegungen auf den Straßen. Kommt Katar als polarisierendes Streitthema hinzu? Wir bemerken natürlich erhebliche Fliehkräfte in der Gesellschaft. Aber Katar muss diese Situation nicht zwingend verstärken. Auch eine andere Schlussfolgerung erscheint mir denkbar – nämlich, dass die Nationalmannschaft eine Faszination auslöst, die für ein Gefühl des Zusammenhalts sorgt. DFB will in Katar Haltung zeigen Im Rahmen der WM wird der DFB permanent mit moralischen Fragen konfrontiert sein. Arbeiter haben die Stadien unter unwürdigen Bedingungen errichtet, es gab Hunderte Todesopfer. Rechte von Frauen und Minderheiten sind in Katar massiv eingeschränkt. Kann ein Sportverband moralische Instanz sein? Ich würde nicht von einer moralischen Instanz sprechen. Aber Tatsache ist: Der DFB ist mit rund sieben Millionen Mitgliedern der größte Einzelsportverband weltweit und vertritt damit fast ein Zehntel der Bevölkerung. Wir wissen, dass wir deshalb eine enorme Verantwortung haben. Der stellen wir uns auch und machen etwa beim Thema Menschenrechte unsere Haltung deutlich. Das ist mir auch als Leiter der deutschen Delegation während der WM in Katar wichtig. Deshalb fordern wir zum Beispiel die Einrichtung eines Hilfsfonds für die Familien verletzter oder getöteter Arbeiter. Eine andere moralische Debatte rund um den Fußball hat Kanzler Olaf Scholz zuletzt befeuert. Er forderte gleiche Siegprämien bei Männern und Frauen. Wie fanden Sie das? Mich haben zwei Dinge an der Debatte gestört. Erstens: Eine der ersten Entscheidungen der neuen DFB-Führung war die Verabschiedung eines ambitionierten Konzepts für die Entwicklung des Frauenfußballs. Es ist auf fünf Jahre angelegt. Denn 2027 wollen wir gemeinsam mit den Niederlanden und Belgien die Frauen-WM ausrichten. Über dieses mit vielen Experten ausgearbeitete Programm ist leider kaum gesprochen worden, weil es in den vergangenen Monaten meist nur um die Siegprämien ging und nicht um eine nachhaltige Entwicklung im Bereich Frauen und Mädchen. Und zweitens? In der Debatte wird vieles miteinander vermischt. Es gibt international viele Formen und damit offensichtlich ein unterschiedliches Verständnis von Equal Pay (Anm. d. Red.: gleicher Bezahlung). Wenn ich beispielsweise den gleichen prozentualen Anteil an den Erlösen eines Turniers als Siegprämie ausschütte, dann ist das in absoluten Zahlen gesehen noch längst keine Gleichbehandlung. Denn die Erlöse bei den Veranstaltungen der Männer sind deutlich höher. Generell muss sich der DFB nicht verstecken. Bei der Frauen-EM im Sommer hatten wir nach den mir bekannten Zahlen nach England die zweithöchste Siegprämie ausgelobt. Verstanden. Was haben Sie denn nun Olaf Scholz auf seinen Tweet geantwortet? Ich habe meine Bereitschaft erklärt, die Ausgestaltung unserer Siegprämien im Präsidium zu diskutieren und zu hinterfragen. Aus meinen Gesprächen mit den Spielerinnen ist aber der Eindruck entstanden, dass sie sich etwas anderes viel sehnlicher wünschen: Nämlich die gleichen professionellen Rahmenbedingungen, wie sie den Männern zur Verfügung stehen. Das betrifft zum Beispiel Reise- und Trainingsbedingungen. Da haben wir beim DFB auch aufgrund des neuen Campus in Frankfurt zuletzt große Fortschritte gemacht. Die Vereine müssen hier aber ebenfalls Anstrengungen unternehmen. Kritik am Umgang mit deutschen Talenten Im Rahmen Ihrer Kandidatur als DFB-Präsident haben Sie die Bedeutung des Amateurbereichs immer besonders betont – ist er wichtiger für die Zukunft des deutschen Fußballs als die Profis? Es gibt nur einen Fußball in Deutschland. Profis und Amateure müssen zusammengedacht werden. Ich fühle mich verpflichtet, immer wieder auf unsere Basis hinzuweisen, auf diejenigen, die nicht jedes Wochenende im medialen Rampenlicht stehen. Wir haben in Deutschland mehr als 24.000 Vereine mit einem herausragenden ehrenamtlichen Engagement. Diese Klubs haben massiv unter den Folgen von Corona- und der Energiekrise zu leiden. Ich betrachte es als meine Aufgabe, bei der Politik auf die Sorgen und Nöte unserer Amateure hinzuweisen und ihre Situation zu verbessern. Sie haben eine gute Lobby mehr als verdient, weil sie unglaublich viel für die Gesellschaft leisten. Zudem: Wenn wir in zehn Jahren noch eine gute Nationalelf haben wollen, brauchen wir eine gute Arbeit an der Basis. Profis und Amateure: Diese beiden Bereiche dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie bedingen einander. Wie kriegen wir flächendeckend mehr Spielerinnen und Spieler, Trainerinnen und Trainer, Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter – und wie fördern wir diese optimal? Darum geht es doch, wenn wir dauerhaft international an der Spitze bleiben wollen. Sind diese Fragen vielleicht sogar drängender als gedacht? Ein Beispiel: Deutschland wurde weltweit für seine starken Torhüter beneidet. Nun kamen zuletzt bereits 8 der 18 Bundesliga-Keeper aus dem Ausland. Bereitet Ihnen das nicht Sorge? Die Profi-Vereine müssen sich fragen lassen, nicht nur im Hinblick auf die Torhüter, ob wir unsere Talente rechtzeitig einbinden und ihnen ausreichend Spielzeit gewähren. Insgesamt müssen wir durch gezielte und nachhaltige Reformen unseren Pool an potenziellen Weltklasse-Spielern bei Männern und Frauen vergrößern. Dafür müssen wir Strukturen, Prozesse und Inhalte im Nachwuchsbereich wie etwa die Trainerausbildung hinterfragen. Daran arbeiten wir intensiv im Rahmen unseres &bdquo;Projekts Zukunft“. Das klingt nach Investitionen. Fürchten Sie nicht, dass der Sport angesichts der für viele Menschen existenziellen Energiekrise eher an Bedeutung verlieren wird und aus dem Fokus der Politik gerät? Dieser Eindruck konnte in der Tat entstehen, weil der Sport in den ersten Maßnahmen der Bundesregierung zur Entlastung von den hohen Energiekosten nicht einmal erwähnt worden ist. Das war sehr schwierig, ist nun aber auch auf Druck des Deutschen Olympischen Sportbundes und des DFB korrigiert worden. Der Sport soll nun - wie alle anderen Verbraucherinnen und Verbraucher auch - entlastet werden. Das ist ein positives Signal, für das wir lange gekämpft haben. Es darf aufgrund der Energiekrise auf keinen Fall zur erneuten Schließung von Sportanlagen kommen. Das wäre nach zwei Wintern, in denen angesichts der Pandemie über lange Zeiträume hinweg kein Trainings- und Spielbetrieb möglich war, ein fatales Signal. Das klingt, als fehle es Ihnen schon jetzt an Unterstützung für den Amateursport. Nun, der Fußball hat die Corona-Zeit verglichen mit anderen Sportarten noch relativ gut überstanden. Die Zahl der Erstanmeldungen in den Vereinen liegt nach Rückmeldungen aus verschiedenen Landesverbänden auf einem höheren Niveau als vor der Corona-Krise. Auch die Stadien sind nicht leer geblieben, wie befürchtet wurde. Ich wage sogar die These, dass der Fußball-Boom nach den Erfolgen der Frauen-Nationalmannschaft und mittelfristig durch die Heim-EM 2024 noch größer werden könnte. Aber? Die Politik und auch wir als Verband müssen uns fragen, ob wir auf einen solchen Boom vorbereitet sind. Ich würde sagen: nur bedingt. In den Ballungsräumen haben wir ein Infrastruktur-Problem. In den großen Städten werden Kinder vereinzelt abgewiesen, weil es an Fußballplätzen fehlt. Deshalb habe ich in Berlin mehrfach an den Koalitionsvertrag der Bundesregierung erinnert, indem der Ausbau der Sport-Infrastruktur als Ziel verankert ist. Neuendorf: Weltmeister und Europameister – das ist möglich Gibt es in großen Städten nicht auch ein Akzeptanz-Problem für weitere Fußballanlagen? Natürlich haben wir das Problem der engen Bebauung in Städten, da sind mancherorts sicher auch Grenzen erreicht. Aber es gibt auch andere Hebel: In der Lärmschutzverordnung werden Kitas zum Beispiel anders behandelt als &bdquo;Kinderlärm“ am Nachmittag auf dem Sportplatz. Das schränkt die Trainingsmöglichkeiten ein. Ich wünsche mir hier eine Liberalisierung zugunsten sporttreibender Kinder und Jugendlicher. Das ist nur eine der Aufgaben für die Politik. Welche gibt es noch? Ein Thema ist zum Beispiel der kommende Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung von Grundschülern. Er wird zur Folge haben, dass viele Kinder länger in der Betreuung bleiben – zu Zeiten, an denen sie sonst im Sportverein trainiert hätten. Deshalb müssen wir das System Schule und den Sport besser miteinander verzahnen. Zum Beispiel könnten ausgebildete Trainerinnen und Trainer im Rahmen von Ganztagsangeboten in der Schule mitwirken. Viel Zeit für solche Überlegungen bleibt nicht mehr. Zurück zu den großen Turnieren: Täuscht unser Eindruck, oder spielt die Heim-EM 2024 in Deutschland derzeit noch keine Rolle? Katar überlagert im Moment alles, nicht nur sportlich, sondern auch politisch. Im Hintergrund laufen die Vorbereitungen für die Heim-EM aber schon auf Hochtouren. Die Qualifikation ist kürzlich ausgelost worden, die zehn Ausrichterstädte stehen fest. Nach der WM wird das auch in der deutschen Öffentlichkeit mehr in den Fokus rücken. Wir arbeiten jedenfalls hart daran, die seltene Gelegenheit eines großen Turniers im eigenen Land optimal zu nutzen. Nur zur Erinnerung – die letzte Heim-EM hatten wir 1988. Da stand die Mauer noch. Der letzte Doppelerfolg ist noch länger her: 1972 wurde Deutschland Europa-, 1974 Weltmeister. Halten Sie, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge, eine Wiederholung für möglich? Möglich auf jeden Fall! Unsere Mannschaft ist gut vorbereitet und kann um den Titel spielen. Mindestens ebenso wichtig ist aber die Art des Auftretens: Ich denke, dass wir uns auf ein engagiertes und leidenschaftliches Team freuen können. Und wen muss die DFB-Elf fürchten? Fürchten müssen wir uns vor niemandem! Das Selbstbewusstsein ist auf jeden Fall da. Favoriten sind aber sicher Brasilien, Argentinien, Belgien, England, Spanien und auch mit Frankreich als Titelverteidiger muss man natürlich rechnen. Und dann wird es sicher wieder Überraschungen wie Kroatien 2018 geben.

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