Wie tickt Putin? Gespräch über eine von "Macht deformierte Persönlichkeit"

Herr Grüner, muss man für die Beurteilung dieses Konfliktes ein politischer und historischer Experte sein - oder ein Putin-Kenner? Frank Grüner: Beides. Man muss diese Jahrhunderte alte, kulturell enge Beziehung zwischen zwei Völkern und Staaten in ihrer Komplexität verstehen - aber auch den Mann, der diese Historie gerade politisch instrumentalisiert und verzerrt für seine Zwecke. Das, was Putin tut, bildet nicht die Entwicklung und den Willen der russischen Gesellschaft ab. Das sind die Handlungen eines entfesselten Despoten, einer von Macht deformierten Persönlichkeit. Und der Westen wäre gut beraten, die Rhetorik dieses Despoten künftig genau zu analysieren und sie auch richtig zu gewichten. Wie meinen Sie das? Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie naiv teilweise von offizieller Seite mit Putins Äußerungen umgegangen wird. Da wird vieles für bare Münze genommen, wo ich mich nur wundern kann, dass man sich darauf verlässt. Nehmen wir den Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Moskau. Putin sendet Entspannungssignale, die der Westen bereitwillig empfängt - unterdessen bereitet er in Ruhe den Einmarsch in die Ukraine vor. Auf der anderen Seite werden viele seiner Ausführungen als großspuriges, weltfremdes Säbelrasseln abgetan, die ich aber für höchst relevant halte, weil sie Aufschluss über sein Denken und seine wirklichen Pläne geben. Die Rede am Montag löste weltweit Befremden aus. Und sie gibt genaue Aufschlüsse darüber, wie Putin tickt, wie imperial seine Denkmuster sind. Dazu muss man auch seine Biografie sehen. Er ist kein Kommunist, er gehörte zu jenem Teil der russischen Gesellschaft, für die das Ende der Sowjetunion einen massiven und schmerzhaften Prestigeverlust und die größte geostrategische Katastrophe bedeutete. Putin ist mit dem Großmacht-Gen ausgestattet und entsprechend verhält er sich: Immer da, wo sich demokratische Entwicklungen vollziehen, wird der Kreml aktiv, um sie zu unterdrücken oder zumindest zu diskreditieren. Das hat der Westen viel zu lange hingenommen. Um dem großen Konflikt, den wir jetzt haben, aus dem Weg zu gehen. Auch. Das Hauptproblem ist aber die unterschiedliche Denkweise. Wir betrachten die Brutalität und Rücksichtslosigkeit mit der Putin vorgeht, als Affront. Für den Westen ist ein Krieg auf europäischem Boden eine nicht mehr denkbare Größe in der Auseinandersetzung, eine historische Phase, der wir uns längst entwachsen fühlen. Wir bewegen uns in zutiefst demokratisch und zivilgesellschaftlich geprägten Denkmustern, die wir anderen auch unterstellen. Das ist bei Putin aber mitnichten der Fall. Im Gegenteil löst diese Haltung bei ihm Verachtung aus. Die EU ist damit für Putin weder ein ernstzunehmender Partner noch ein ernstzunehmender Gegner. Er orientiert sich allein an dem Recht des Stärkeren, vor allem in militärischer Hinsicht. Das mag unzeitgemäß klingen, bestimmt aber sein Denken. Kann der Westen das ändern - und sollte er das? Wir brauchen ganz dringend eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es ist, gerade im Hinblick auf die deutsche Geschichte, ganz sicher nicht falsch gewesen, lange Zurückhaltung gegenüber bewaffneten Konflikten zu wahren. Aber nun rächt sich, dass wir Völkerrechtsverletzungen durch Russland aus Angst vor einem größeren Konflikt so lange hingenommen haben. Dadurch eskaliert es jetzt noch mehr. Europa wird hier künftig sehr viel entschiedener handeln müssen. Putin agiert vollkommen rücksichtlos, sowohl gegenüber anderen als auch dem eigenen Volk. Was er kann, erlaubt er sich. Dagegen kommt die EU mit einer Taktik aus Mediation und Pazifismus nicht an. Gehen Ihre Überlegungen über wirtschaftliche Sanktionen hinaus? Sanktionen sind ein effizientes Mittel. Aber sie müssen sehr weitreichend sein, auch wenn uns das selbst finanziell richtig wehtut. Wir müssen uns schnellstmöglich völlig unabhängig machen in der Energieversorgung. Und wir müssen in Kauf nehmen, dass das Engagement deutscher Industrie in Russland zumindest mittelfristig geschädigt wird, solange das Putin-Regime am Ruder ist. Nur so ist sichergestellt, dass der Westen mit diesem Regime konsequent nicht mehr kooperiert. Wie hoch, glauben Sie, ist der Rückhalt Putins in Russland für das, was gerade passiert? Natürlich muss man hier sofort die Gegenfrage stellen, inwiefern das relevant sein sollte für einen Putin, der jegliche Form von Opposition und Kritik seit Jahrzehnten im Keim erstickt. Dennoch kann man Hoffnung haben, dass er dieses Verbrechen langfristig politisch nicht übersteht. Dieser Krieg ist nicht im Interesse der russischen Bevölkerung. Auch sie wird darunter leiden, auch hier wird es Opfer geben. Mag sein, dass dies lange nur von kleinen Teilen der Gesellschaft kritisiert wird. Aber die Geschichte hat gezeigt, dass in Russland auch wenige dissidentische Stimmen großes Gewicht erlangen können. Und wie stark ist der ukrainische Widerstand? Militärisch ist der ukrainische Staat zweifelsohne hoffnungslos unterlegen und chancenlos. Die gesamte Rhetorik Putins zielt gerade darauf ab, den ukrainischen Staat in seiner Unabhängigkeit zu destabilisieren, den Ukrainern sogar das &bdquo;historische Recht“ abzusprechen, eine eigenständige Nation zu sein. Ich denke, es läuft darauf hinaus, dass die Regierung abgesetzt und durch ein Marionettenregime ersetzt werden soll. Das werden die Ukrainer niemals akzeptieren. Was dann aber passiert, mag ich mir kaum ausmalen. In jedem Fall die nächste Stufe der Eskalation.

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