Berlin (dpa/AFP). Nach dem verheerenden Terroranschlag in Afghanistan mit Dutzenden Todesopfern und dem Abzug westlicher Truppen befürchtet die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter nun "bürgerkriegsähnliche Zustände" in dem Krisenstaat. Die neuen islamistischen Machthaber, die Taliban, und die mit ihnen verfeindete Terrormiliz Islamischer Staat, die sich zu dem Anschlag bekannte, konkurrierten um Macht, Einfluss und die religiöse Deutungshoheit, sagte die Direktorin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam am Freitag im ZDF-"Morgenmagazin". Man müsse nun Schlimmeres befürchten als nur eine islamistische Herrschaft, also ein "Emirat" der Taliban nach den Regeln der Scharia.
Schröter sagte, es sei offenkundig, dass die Taliban teilweise Unterstützung in der Bevölkerung hatten bei ihrem Kampf gegen die Nato und auch auf ihrem jüngsten Eroberungszug. Schon unter der sowjetischen Besatzung seien sie manchen als eine Art Befreiungsbewegung erschienen. Doch zeige der Anschlag in Kabul auch, dass der IS selbst in der Hauptstadt zuschlagen könne und die Taliban nicht das ganze Land vollständig kontrollieren.
Der IS gibt sich deutlich gewalttätiger
Im Vergleich zu den Taliban sei der IS "durch eine viel größere Gewalttätigkeit" gekennzeichnet und sei auch eine transnationale Organisation, sagte Schröter. Ziel sei die islamische Weltherrschaft. Das klinge absurd, sei aber der Grund, warum überall auf der Welt Anschläge stattfinden.
Bei den Explosionen vor dem Flughafen von Kabul sollen mindestens 28 Taliban-Mitglieder ums Leben gekommen sein. Wie ein Mitglied gegenüber erklärte, hätten sie damit mehr Einsatzkräfte verloren als die Amerikaner. Die Taliban verurteilten den Angriff noch am Donnerstag. "Angriffe auf unschuldige Zivilisten sind Terrorakte", sagte ein Vertreter der Islamisten dem türkischen TV-Sender Habertürk. Dass solche Angriffe stattfänden, liege an der Anwesenheit ausländischer Truppen.
Der afghanische IS-Ableger ISKP
Der IS hatte 2014 weite Teile des Iraks und Syriens überrannt und ein "Kalifat" ausgerufen. Wenige Monate später schworen abtrünnige Mitglieder der pakistanischen Taliban-Organisation TTP dem damaligen IS-Anführer Abu Bakr al-Bagdadi die Treue. Zusammen mit Kämpfern aus Afghanistan gründeten sie den regionalen IS-Ableger Provinz Chorasan (ISKP). Anfang 2015 erkannte die Führung der Dschihadistenmiliz den IS-Ableger Provinz Chorasan offiziell an.
Chorasan ist die historische Bezeichnung für eine Region in Zentralasien, die unter anderem Teile der heutigen Staaten Afghanistan, Pakistan und Iran umfasst. Der ISKP konnte in Afghanistan vor allem in den nordöstlichen Provinzen Nangarhar und Kunar Fuß fassen. Nach Angaben von UN-Experten baute die Gruppe auch Schläferzellen in anderen Teilen des Landes, darunter Kabul, sowie in Pakistan auf. Die jüngsten Schätzungen zur Zahl der Kämpfer des IS-Ablegers schwanken zwischen 500 und mehreren tausend, wie aus einem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juli hervorgeht.
Anschläge in Afghanistan und Pakistan
Dem ISKP werden einige der blutigsten Anschläge der vergangenen Jahre in Afghanistan und Pakistan zur Last gelegt. Dabei wurden Zivilisten in Moscheen, Krankenhäusern und an anderen öffentlichen Orten getötet. Die sunnitischen Extremisten nehmen vor allem Muslime ins Visier, die sie als "Ketzer" betrachten, insbesondere Schiiten.
Im August 2019 bekannten sie sich zu einem Angriff auf Schiiten bei einer Hochzeit in Kabul, bei dem 91 Menschen getötet wurden. Die Gruppe wird auch hinter einem Anschlag im Mai 2020 auf eine Entbindungsstation in der afghanischen Hauptstadt vermutet, bei dem 25 Menschen getötet wurden, unter ihnen Neugeborene, Mütter und Krankenschwestern. Kämpfer des IS-Ablegers verübten außerdem regelmäßig Massaker an Dorfbewohnern. Der Gruppe gelang es aber nicht, größere Gebiete in Afghanistan unter ihre Kontrolle zu bringen. Nach Einschätzung der UNO und der USA konzentrieren sie sich nun weitgehend darauf, mithilfe von Schläferzellen große Anschläge in Städten zu verüben.
Das Verhältnis des IS zu den Taliban
Obwohl es sich sowohl beim IS als auch bei den Taliban um sunnitische Extremisten handelt, bestehen zwischen beiden Gruppen Differenzen in religiösen und strategischen Fragen. In Erklärungen des IS wurden die Taliban als "Abtrünnige" bezeichnet. Beide Gruppen führten auch blutige Kämpfe gegeneinander, aus denen die Taliban weitgehend als Sieger hervorgingen. Der IS übte auch scharfe Kritik an dem im Februar 2020 geschlossenen Abkommen der Taliban mit den USA, in dem Washington einen vollständigen Truppenabzug aus Afghanistan zusicherte.
Die Taliban hätten damit die Ziele des Dschihad verraten, erklärte der IS. Nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul erhielten die Islamisten Glückwünsche von verschiedenen dschihadistischen Gruppen, nicht aber vom IS, der ankündigte, seinen Kampf fortzusetzen.
Die Bedrohungslage am Kabuler Flughafen kurz vor den Anschlägen
Nach US-Angaben bestand rund um den Kabuler Flughafen eine hohe Gefahr durch Anschläge von ISKP-Kämpfern. Die USA und mehrere andere westliche Länder warnten eindringlich davor, sich zum Flughafen zu begeben. US-Präsident Joe Biden sprach von einer "akuten und wachsenden Gefahr" von IS-Anschlägen auf Soldaten und Zivilisten. Angesichts des für nächsten Dienstag vorgesehenen Abzugs der US-Truppen kündigten mehrere Länder an, ihre Rettungsmissionen für gefährdete Menschen in Afghanistan bereits am Donnerstag oder Freitag einzustellen. Die Taliban, die rund um den Flughafen ihre eigenen Kämpfer für Kontrollen installiert haben, lehnten eine Verlängerung des US-Abzugsdatums strikt ab.