Bei stundenlangen Feuergefechten zwischen Sicherheitskräften und Kriminellen sind in Rio de Janeiro mindestens 64 Menschen ums Leben gekommen. Spezialeinsatzkommandos der Kriminal- und Militärpolizei rückten in einem Großeinsatz gegen das Verbrechersyndikat Comando Vermelho (Rotes Kommando) in Mannschaftsstärke in die Favela Alemão und das Viertel Penha im Norden der brasilianischen Küstenmetropole ein. Dabei wurden 81 mutmaßliche Gangmitglieder festgenommen, wie der Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, Cláudio Castro, sagte.
Allerdings könnte die Zahl der Opfer noch steigen. Am Mittwochmorgen legten Bewohner der Favela Penha mindestens 64 Leichen auf einer der Hauptstraßen des Viertels ab. Sie reihten die Toten nebeneinander auf, einige unter Decken, viele aber auch nur mit Unterhosen bekleidet. Familienmitglieder suchten nach ihren Angehörigen, andere trauerten bereits um ihre Toten.
Polizei prüft Identität der Leichen
Ob es sich bei den nun präsentierten Leichen um weitere Opfer des Polizeieinsatzes handelte, war zunächst unklar. Der Sprecher der Militärpolizei Marcelo de Menezes Nogueira sagte dem Fernsehsender TV Globo, er gehe zunächst davon aus, dass die neuen Leichen bislang noch nicht registriert wurden. Sollte sich das bestätigen, wären bei dem Polizeieinsatz mehr als 120 Menschen ums Leben gekommen.
«In 36 Jahren in der Favela, in denen ich mehrere Operationen und Massaker miterlebt habe, habe ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen wie das, was ich heute sehe», sagte der Aktivist Raull Santiago, der bei der Bergung der Leichen half, dem Sender TV Globo. «Das ist etwas Neues. Brutal und gewalttätig auf einem bisher unbekannten Niveau.»
Bei der Operation handelte es sich Medienberichten zufolge um den blutigsten Polizeieinsatz in der Geschichte des Bundesstaates Rio de Janeiro. «Wir handeln gemeinsam mit aller Kraft, um deutlich zu machen, dass die Macht beim Staat liegt», sagte Castro bei einer Pressekonferenz in der Kommandozentrale der Sicherheitskräfte. «Wir werden den Kampf gegen das organisierte Verbrechen entschlossen fortsetzen.»
Comando Vermelho ist in Drogenhandel verwickelt
Das Comando Vermelho ist eines der größten Verbrechersyndikate des südamerikanischen Landes und vor allem im Drogenhandel aktiv. Bei dem Einsatz wurden nach Angaben der Behörden 81 Verdächtige festgenommen - darunter ein regionaler Anführer der Gruppe und der Finanzchef von einem der obersten Bosse der Gang. Die Polizei beschlagnahmte zudem über 90 Schnellfeuerwaffen und mehr als 200 Kilogramm Drogen.
Nach dem Einsatz wurden zehn bereits inhaftierte hochrangige Anführer des Comando Vermelho in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegt. Sie sollen Vergeltungsmaßnahmen gegen die Sicherheitskräfte angeordnet haben.
Heftige Gefechte mit Schnellfeuergewehren und Drohnen
Mindestens 2.500 Polizisten waren an der Operation beteiligt, bei der auch zwei Hubschrauber und Dutzende gepanzerte Fahrzeuge zum Einsatz kamen. Kriminelle steckten Barrikaden und Autos in Brand, warfen Sprengsätze von Drohnen ab und eröffneten das Feuer auf die Beamten. Vier Polizisten kamen bei dem Einsatz ums Leben, neun weitere Polizisten wurden angeschossen. Auch drei Zivilisten gerieten ins Kreuzfeuer.
Auf Videos war zu sehen, wie schwarze Rauchwolken über den Vierteln aufstiegen. Während einer der heftigsten Phasen der Kämpfe peitschten in einer Minute über 200 Schüsse durch die Favela. Schwarzgekleidete Polizisten in Kampfmontur stürmten mit Sturmgewehren im Anschlag durch die engen Gassen der Elendsviertel.
Die bürgerkriegsähnlichen Zustände hatten auch Auswirkungen auf das Stadtleben. Über 100 Buslinien mussten wegen der Kämpfe ihre Routen ändern. Mehrere Universitäten und Schulen ließen den Unterricht ausfallen. In den betroffenen Stadtteilen leben etwa 280.000 Menschen. «Das ist die Realität. Wir bedauern zutiefst, dass Menschen verletzt wurden, aber dies ist eine notwendige, intelligent geplante Maßnahme, die fortgesetzt wird», sagte der Sicherheitsminister von Rio de Janeiro, Victor Santos, dem Sender TV Globo.
Im Fernsehen waren von Einschusslöchern vernarbte Häuserfassaden zu sehen. Eine Bewohnerin der Favela Alemão berichtete, während der Schießerei habe eine Kugel ihr Fenster durchschlagen und den Kühlschrank getroffen. Eine andere beklagte, ihr Hund sei erschossen worden.
Brasiliens Polizei tötet 17 Menschen pro Tag
In kaum einem anderen Land der Welt kommen so viele Menschen bei Polizeieinsätzen ums Leben wie in Brasilien. 2024 töteten Sicherheitskräfte in dem südamerikanischen Land 6.243 Menschen - durchschnittlich 17 Menschen pro Tag, wie aus dem Jahrbuch für öffentliche Sicherheit hervorgeht. In den USA waren Polizisten im vergangenen Jahr für den Tod von 1.378 Menschen verantwortlich, in Deutschland wurden 22 Personen von Beamten erschossen.
Allerdings lassen sich Polizeieinsätze in Europa nicht mit denen in Brasilien vergleichen: Viele Armenviertel werden von schwer bewaffneten Drogenbanden kontrolliert. Rückt die Polizei in den Favelas ein, um einen Haftbefehl zu vollstrecken oder nach Rauschgift zu suchen, wird sie nicht selten mit Salven aus Sturmgewehren empfangen. Die Operationen in den verwinkelten Gassen der Elendsviertel von Rio de Janeiro und São Paulo gleichen eher Militäreinsätzen als Polizeimaßnahmen. Menschenrechtsaktivisten werfen der Polizei allerdings vor, häufig mit übertriebener Härte vorzugehen und wenig Rücksicht auf die Bewohner der Favelas zu nehmen.
Menschenrechtsaktivisten kritisieren blutigen Einsatz
Das Menschenrechtskommissariat der Vereinten Nation forderte eine Untersuchung des blutigen Polizeieinsatzes in Rio de Janeiro. «Wir sind entsetzt über die Polizeieinsätze in den Favelas von Rio de Janeiro, bei denen Berichten zufolge bereits über 60 Menschen ums Leben gekommen sind, darunter vier Polizeibeamte», hieß es in einer Stellungnahme. «Sie setzen den Trend extrem tödlicher Einsätzen in den abgehängten Gemeinden Brasiliens fort. Wir erinnern die Behörden an ihre Verpflichtungen aus dem internationalen Recht und fordern eine umgehende Untersuchung.»
Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte die Operation. «Öffentliche Sicherheit wird nicht mit Blut erreicht», hieß es in einer Mitteilung der Gruppe. «Der Einsatz mit den meisten Toten in der Geschichte Rio de Janeiros offenbart das Scheitern der Sicherheitspolitik des Bundesstaates und versetzt die Stadt in einen Zustand des Terrors.»