
Dass sich der Bundestags-Innenausschuss am vorletzten Tag des Jahres zu einer Sondersitzung versammelt, ist alles andere als alltäglich. Am 30. Dezember 2024 war es so weit. Denn es gab einen gewichtigen Grund: den Anschlag in Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt Magdeburg zehn Tage zuvor. So eilte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ebenso herbei wie ihre sachsen-anhaltinische Amtskollegin Tamara Zieschang (CDU) und die Chefs der Bundessicherheitsbehörden. Sie alle sollten gegenüber den Parlamentariern die Frage beantworten, wie es zu der Tat mit fünf Toten – darunter ein neunjähriger Junge – und über 200 teilweise Schwerverletzten auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt hat kommen können.
Dabei fielen die Antworten noch spärlich aus. Zwar betonte Faeser: „Alle Hintergründe müssen gründlich und genauestens ermittelt werden. Hier wird jeder Stein umgedreht.“ Noch stehen die Aufklärungsbemühungen jedoch erst am Anfang.
Immer offenkundiger wird, dass es die für den Weihnachtsmarkt Verantwortlichen an den nötigen Sicherheitsvorkehrungen haben fehlen lassen. So sagte Zieschang laut Teilnehmern der Sitzung, die Rettungsgasse, die der Täter Taleb A. mit seinem geliehenen SUV nutzte, sei nicht vier Meter, sondern über sechs Meter breit gewesen. Der SPD-Innenexperte Sebastian Hartmann kritisierte, darin hätten zwei Panzer einander begegnen können. Einem Bericht der Magdeburger „Volksstimme“ zufolge mangelte es überdies an mobilen Sperren.
Ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg teilte am Montag denn auch mit, dass derzeit mindestens drei Strafanzeigen gegen Verantwortliche der Stadt, der Polizei und der Gesellschaft zur Durchführung der Magdeburger Weihnachtsmärkte vorlägen. Unter anderem gehe es um den Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen, hieß es. All das ist umso erstaunlicher, als Weihnachtsmärkte als besondere Risikozonen gelten, seitdem der Tunesier Anis Amri am 19. Dezember 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz 13 Menschen tötete und Dutzende schwer verletzte.
Faeser: Taleb A. passt in kein Raster
Weiter unklar ist, warum Taleb A. – der aus Saudi-Arabien stammt, seit 2006 in Deutschland lebt und 2016 Asyl als politisch Verfolgter erhielt – von den Sicherheitsbehörden nicht ernst genommen wurde. Immerhin stieß der 50-Jährige, der auf der Plattform X sage und schreibe 48.000 Follower hatte, mehrfach Drohungen aus, die von der Justiz teilweise geahndet wurden. Zudem machte der saudi-arabische Geheimdienst die deutschen Sicherheitsbehörden auf Taleb A. aufmerksam. Und schließlich war der Mann in einer Weise psychisch auffällig, die zumindest an seiner Arbeitsstelle zu Konsequenzen hätte führen müssen. Taleb A. arbeitete in Bernburg südlich von Magdeburg im Maßregelvollzug, also einem Gefängnis für psychisch kranke Straftäter.
Aus dem Ausschuss verlautete nun, der Täter von Magdeburg tauche zwar 80-mal in Akten der Sicherheitsbehörden auf. Darunter seien Mehrfachnennungen und Strafanzeigen, die er selbst gestellt habe. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Konstantin Kuhle bemängelte freilich, dass es keine vollständige Auflistung der durch Taleb A. ausgelösten Behördenkontakte gebe. Schwerer wiegt wohl, dass er, wie die Bundesinnenministerin anmerkte, „in kein bisheriges Raster“ passt. Taleb A. kommt wie erwähnt aus Saudi-Arabien, ist aber kein Islamist, sondern äußerte sich vielmehr zunehmend islamfeindlich bis rechtsextrem. Mit dieser Kombination waren Nachrichtendienste, Polizei und Justiz überfordert.
Der Liberale Kuhle konstatierte denn auch: „Wenn der Täter ein klassischer Islamist gewesen wäre, dann wäre die Tat wesentlich weniger wahrscheinlich gewesen.“ Die Grünen sehen das ähnlich und erinnerten an den Anschlag im Münchner Olympia-Einkaufszentrum am 22. Juli 2016. Damals erschoss ein 18-jähriger Deutsch-Iraner neun Menschen mit Migrationshintergrund und sich selbst. Es dauerte zweieinhalb Jahre, bis die Sicherheitsbehörden die Tat als rechtsextremistisch einstuften.
Parteiübergreifend Einigkeit bestand insofern, als es noch zu früh sei, Schlussfolgerungen zu ziehen. Manche sehen das zentrale Problem ohnehin eher in der „Verantwortungsdiffusion“, also der strukturellen Zuständigkeit vieler Stellen, ohne dass eine Stelle konkret zur Rechenschaft gezogen werden könnte.
Ängste unter Migranten
Unterdessen tut sich in Sachsen-Anhalt noch ein anderes Problem auf – Übergriffe auf Menschen mit Migrationshintergrund, auf die zuletzt unter anderem Kirchenvertreter hinwiesen. Der aus dem Senegal stammende und in Sachsen-Anhalt lebende SPD-Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby sagte dieser Redaktion: „Es gibt jetzt viele Drohungen gegen Migranten – nach dem Motto: Ausländer raus! Es gibt auch verstärkt Angriffe, jedenfalls nehme ich das in Netzwerken wahr.“ Das sei „sehr beunruhigend“. Gewiss müsse der Täter von Magdeburg für „die Schreckenstat“ zur Verantwortung gezogen werden, betonte Diaby. Aber „ein Generalverdacht“ gegen Migranten sei „schrecklich. Wir sollten dafür sorgen, dass in der Bevölkerung jetzt alle zusammenhalten.“