Thomas Gottschalk ist krank. Das ist Privatsache. Einerseits. Andererseits ist so gut wie nichts Privatsache, wenn man Deutschlands bekanntester Entertainer ist. Seine Krebserkrankung erklärt, warum er bei seinen jüngsten Auftritten nicht er selbst war. Er trat dennoch auf, sagt er, weil Pflichterfüllung in dieser Generation keine Frage von Tagesform und Laune ist.
So ist er. Er kann nicht anders. Ein alterndes Zirkuspferd rappelt sich auf und dreht sich im Staub der Sägespäne, wenn das Licht angeht. Das verdient Respekt, auch wenn man ihm den Mut gewünscht hätte, sich früher auf seine Genesung zu konzentrieren. Gleichzeitig macht es die Erbarmungslosigkeit, mit der viele Zuschauer seine irritierenden Einwürfe zuvor mit Spott und Häme überzogen hatten, noch erschreckender.
Ein Mann von 75 Jahren bringt – auch ohne Krebs – nicht mehr dieselbe geistige und körperliche Spannkraft auf wie ein 30-Jähriger. So ist das Leben. Schwäche und nachlassende Kraft gehören zum Menschsein. Dem alternden Gottschalk aber, dem „göttlichen Bub“ (Martin Walser), dem einst so strahlenden und kumpeligen „Thommy“, in dessen Hirn „permanent eine Rasterfahndung nach dem nächsten Gag abläuft“ (Günther Jauch), verweigerten die Zuschauer seit Jahren die Gnade der Nachsicht.
Unperfektheiten haben keinen Platz im öffentlichen Leben
Warum? Weil sie übel nahmen, dass auch jugendliche Helden in die Jahre kommen. Und weil die hypersensible Gegenwart, die sich so gern achtsam und maximal tolerant gibt, in Wahrheit noch immer unerbittlich ist, wenn es um Alter, Schwächen oder Krisen geht. Unperfektheiten haben keinen Platz im öffentlichen Leben.
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Kein Moderator sitzt im Rollstuhl. Kein Nachrichtensprecher ist blind. Schon wer mit Akzent spricht, wird schnell belächelt. Nicht wenige alternde Schauspielerinnen verschwinden einfach, weil es keine Rollen mehr für sie gibt. Zwar geben viele Prominente Auskunft über überstandene Depressionen und Lebenskrisen – aber erst in der Retrospektive. Sicht- und hörbare Normabweichungen verzeiht die Glitzerwelt nicht.
Gottschalk weiß das. Und es hielt ihn davon ab, seinen Krebs früher öffentlich zu machen. Das ist bitter. Aber das gereizte, überspannte Land schießt, befeuert von klickversessenen Boulevardmedien, sofort auf jeden, der Anomalien zeigt.
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Was dieser Gesellschaft guttun würde
Vor Jahren stellte sich Rudi Carrell mit dünner Fistelstimme als sterbende Legende vor ein weinendes Publikum. Es ist legitim, dass Gottschalk so lange wie nur irgend möglich seinem alten Image zu entsprechen versuchte. Aber es könnte dieser Gesellschaft mächtig guttun, zu erkennen, dass jedes Leben auch Unpässlichkeiten und Imperfektionen vorsieht, die jene, die es führen, nicht weniger wertvoll machen – so wie den neuen, langsameren, ganz normal gealterten, hilfebedürftigen Thomas Gottschalk.
Am Sonnabend wird er seinen Fernsehabschied feiern. Was er braucht, ist mehr Liebe und weniger Häme. So wie wir alle.