
Die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei liegen auf Eis, dennoch erstellt die EU-Kommission jedes Jahr einen sogenannten Fortschrittsbericht. Genauer gesagt werden darin vor allem ausbleibende Fortschritte dokumentiert, was viel über den Zustand des Landes nach 22 Jahren Herrschaft von Recep Tayyip Erdogan aussagt. „Die ernsten Bedenken der EU über die anhaltende Verschlechterung der demokratischen Standards, der Rechtsstaatlichkeit, der Unabhängigkeit der Justiz und der Achtung der Grundrechte wurden nicht berücksichtigt“, hieß es im jüngsten Bericht.
Dazu passt, dass Erdogan – der der islamisch-konservativen AKP vorsteht – den Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der größten Oppositionspartei CHP hat festnehmen lassen. Der Verdacht liegt nahe, dass Erdogan so seinen derzeit aussichtsreichsten Konkurrenten bei der nächsten Präsidentenwahl aus dem Weg räumen will.
Erdogan ignoriert Europas Kritik an seiner Repression
Dass Oppositionspolitiker in der Türkei hinter Gittern landen, ist nicht ungewöhnlich. So wurde beispielsweise im November 2016 der damalige Chef der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtas, unter Terrorvorwürfen inhaftiert, er sitzt bis heute im Gefängnis. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seine Inhaftierung als politisch motiviert verurteilt und die Freilassung verlangt, was Ankara ignoriert.
Lesen Sie auch: Erdogan-Gegner Imamoglu in Türkei festgenommen
Politisch motiviert ist nicht nur aus Sicht der Opposition auch die Festnahme Imamoglus, gegen den Korruptions- und Terrorismusvorwürfe erhoben werden. Zuvor hatte die Universität Istanbul Imamoglus Diplom aberkannt – ein Hochschulabschluss ist Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur. Pikant: Um Erdogans Diplom gibt es seit Jahren Kontroversen, so hat etwa die Vereinigung der Universitätsdozenten (Ünivder) die Authentizität infrage gestellt.
Europa steht vor einem Dilemma
Politische Kontrahenten einsperren zu lassen, ist mit europäischen Werten unvereinbar. Spätestens jetzt sollte die EU die ausgesetzten Beitrittsverhandlungen mit Ankara eigentlich endgültig stoppen. Das aber wird nicht geschehen, weil Europa vor einem Dilemma steht.
Einerseits ist der alarmierende Zustand der Demokratie in der Türkei unübersehbar. Andererseits ist Europa mehr denn je auf Erdogan angewiesen. Nach dem Wegfall der USA als zuverlässigem Partner brauchen die europäischen Nato-Staaten an ihrer Südostflanke die Türkei, die die zweitgrößte Armee in dem Bündnis stellt. Die Türkei beherbergt zudem Millionen Flüchtlinge, von denen befürchtet wird, sie könnten weiter nach Europa ziehen.
Mehr als die üblichen Mahnungen an die Adresse Erdogan dürfte von EU-Mitgliedern wie Deutschland nicht zu erwarten sein. Letztlich ist es aber ohnehin nicht die EU, die Erdogan und seiner zunehmend autokratischen Politik das Stoppschild zeigen kann. Das können nur die türkischen Wähler – wenn Erdogan ihnen die freie Wahl lässt.