
Der Wahl-O-Mat bricht alle Rekorde. 9,2 Millionen Mal wurde das Online-Tool der Bundeszentrale für politische Bildung bis zum Freitagmittag genutzt. 9,2 Millionen Mal innerhalb von 24 Stunden wollten also Menschen die politischen Positionen von Parteien mit ihren eigenen abgleichen, um daraus möglicherweise eine Entscheidung für die Bundestagswahl am 23. Februar abzuleiten. Das sagt, auch wenn es bisweilen Zweifel an der Aussagekraft des Tools gibt, eine Menge aus.
Zunächst einmal zeigt die Zahl, wie groß das Interesse an der Wahl ist – und wie groß offenbar die Unkenntnis dessen, was die Parteien anstreben. Die Gründe sind vielschichtig. Sie sprechen jedenfalls dafür, dass die Möglichkeiten, sich zu informieren, praktisch nicht ausreichend genutzt werden. Das ist umso erstaunlicher, als sie heute rein technisch gesehen nahezu unerschöpflich sind, und zwar im Online-Zeitalter zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Dies könnte daraufhin deuten, dass es gar nicht so sehr das Wissen ist, das fehlt, sondern die Fähigkeit, daraus an der Wahlurne die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Denn die Zahl der bis zuletzt Unterentschlossenen steigt seit Jahren. Manche entscheiden sich erst in der Wahlkabine. Darin drückt sich eine nachvollziehbare Verunsicherung aus. Das gilt umso mehr, als bei Wahlen nicht allein inhaltliche Erwägungen ausschlaggebend sind, sondern mehr und mehr auch taktische.
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Menschen wählen taktisch nach dem zu erwartenden Ergebnis
Taktisch heißt in diesem Fall: Menschen richten sich unter anderem nach dem zu erwartenden Ergebnis aus. Das ist in diesem Jahr zwar im Ganzen relativ absehbar, vor allem, was den Wahlsieg der Union betrifft. Allerdings entscheiden kleinere Verschiebungen darüber, ob Sozialdemokraten oder Grüne vorne liegen und ob dem nächsten Bundestag vier Fraktionen angehören oder sieben. Die Folgen für die Regierungsbildung können in die eine wie die andere Richtung erheblich sein.
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Die Rekordteilnehmerzahl ist ferner ein Beleg für die Bedeutung dieser Bundestagswahl. Es gab ja Zeiten, in denen Politik nicht so wichtig zu sein schien – und mit ihr der Akt des Wählens. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sprach vor über 30 Jahren vom „Ende der Geschichte“. Heute zeigt sich: Nichts war falscher als das. Es geht am 23. Februar nicht allein um Wirtschaftskrise, Inflation, Migration, Klimawandel, Digitalisierung sowie Krieg und Frieden. Perspektivisch steht auch in Deutschland die Frage im Raum, ob es künftig überhaupt noch Wahlen geben wird – oder zumindest, wie frei sie sein werden. Mit einem Wort: Es geht um alles.
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Ein dritter Aspekt kommt hinzu: Der Wahl-O-Mat ist unter anderem ein Angebot an Jung- und Erstwähler. Die sind nämlich im Zweifel nicht nur weniger informiert und in jedem Fall weniger wahlerfahren. Sie sind im Verhältnis zu den Alten auch zunehmend weniger an der Zahl und daher in der Gefahr, untergebuttert zu werden. „Wir leben in einem demografischen Ungleichgewicht, und da ist es besonders wichtig, dass junge Leute auch von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen und ihre Interessen vertreten“, sagt der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger. So ist es.
Dass so viele Bürger auf den letzten Metern vor der Bundestagswahl nochmal versuchen, sich schlau zu machen, ist deshalb in erster Linie eine gute Nachricht. Aber nicht nur. Es zeigt überdies die tiefe Ambivalenz, die der Wahl im internationalen Kontext anhaftet. Immer größere Teile der Welt werden autokratisch oder diktatorisch regiert. In den USA sieht sich die Demokratie gerade einem vehementen Angriff ausgesetzt. Umso kostbarer ist es, selbst eine Stimme abgeben zu dürfen.
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