Wer sich dieser Tage durch Klatschmeldungen und Gesundheitsseiten klickt, könnte leicht auf den Gedanken kommen, Deutschland sei ein Land der Abstinenzler. Das Buch „Warum ich keinen Alkohol trinke“ verkauft sich bestens, die Wissenschaft rät selbst von kleinsten Mengen ab, und der „Dry January“, ein Monat ohne Bier, Wein und Schnaps, ist gerade dabei, die Fastenzeit abzulösen.
Doch es gibt noch eine andere Realität hierzulande, und die wird beschrieben von den Zahlen, die die Barmer traditionell Anfang des Jahres veröffentlicht. Mehr als 1,4 Millionen Menschen waren demnach 2023 hierzulande in Therapie, weil sie ohne Alkohol nicht leben können. Das waren geringfügig weniger als im Jahr zuvor, Besserung jedoch lässt sich daraus nicht ablesen.
Seit Jahren schwanken die Zahlen um diesen Wert, wobei sie ohnehin nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden. Weit mehr Menschen, so viel ist sicher, sind hierzulande vom Alkohol abhängig, nur dass sie das vielleicht sich und dem Rest der Welt nicht eingestanden haben.
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Das gesunde Glas Rotwein? Als Mythos entlarvt
Und so scheint es im Land zwei Welten zu geben. In der einen trinken die Menschen Jahr für Jahr ein bisschen weniger, lassen die Jungen Bier und Wein immer häufiger stehen. In dieser Welt ist es chic, dem Dry January zu folgen, seine Gesundheit zu tracken und auch im Rest des Jahres kaum zu trinken.
In der anderen Welt dagegen gehört der Rausch zum Alltag, braucht es Courage, auf einer Feier nicht zu trinken. In dieser Welt ist Deutschland noch immer ein Land, in dem mit am meisten Alkohol weltweit getrunken wird, und da sind viele, vor allem Männer mit Mitte vierzig, der Sucht so ausgeliefert, dass sie Hilfe brauchen.
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Die Appelle erreichen die Menschen nicht
Das Problem ist nur, dass beide Universen scheinbar parallel existieren: Da ist die Welt des neuen Puritanismus – und die des unreflektierten Konsums. Die Berührungspunkte sind da eher gering. Wer ein Trinkproblem hat, wird die neue ARD-Alkohol-Detox-Serie kaum schauen. Und wer das Alkoholverzichtsbuch von Bas Kast liest, wird auch sonst zu gesundem Leben neigen.
Genau deshalb erreichen Appelle und Aufklärungskampagnen ziemlich wenig. Der einzige Weg, den Alkoholkonsum drastisch zu verringern, ist der Preis. In Deutschland sind Schnaps, Wein und Bier konkurrenzlos billig. In einem Land, in dem der günstigste Kasten Bier trotz Inflation noch immer unter 10 Euro kostet, haben es die Alternativen naturgemäß schwer.
Schweden hat es vorgemacht, wie man mit höheren Steuern den Konsum deutlich senkt. Es braucht keine Verbote, der Preis animiert zum Verzicht. Es zu ergreifen, dazu ist die Politik hier bislang nicht bereit. Sei es, weil sie, wohl zu Recht, den Zorn vieler Konsumenten fürchtet, oder den von Brauern und Winzern. Solange das so bleibt, werden die hohen Zahlen der Alkoholkranken weiter zum Januar gehören wie triumphale Berichte derer, die sich der Abstinenz rühmen.
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