Kommentar

Der Rückzug des US-Präsidenten als neue Chance

Joe Bidens Verzicht eröffnet den Demokraten eine Chance im schon verloren geglaubten Machtkampf gegen Donald Trump. Doch es wird eng, analysiert unser Autor.

Joe Bidens Zeit als Präsident der USA ist nun bald abgelaufen. | © Evan Vucci

Thomas Seim
22.07.2024 | 22.07.2024, 10:50

Für einen Augenblick scheint die Welt stillzustehen, jedenfalls die westliche, mit Sicherheit die US-amerikanische: Der noch amtierende Präsident Joe Biden tritt nicht noch einmal an. Er hat am Ende den Angriffen auf seine mindestens körperlichen Schwächen, vermutlich aber auch Konzentrations- und Sprachmängel nicht mehr standhalten können. Sein Gegner Donald Trump hat keinen Gegner mehr für seine Rache wegen der verlorenen Wahl vor vier Jahren.

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Nun beginnt der Wahlkampf um die Macht im nach wie vor mächtigsten Land der Welt gewissermaßen neu. Bislang hatte Trump mit der Unfähigkeit des alten Biden gegen den Demokraten argumentiert. Nun fallen alle seine Attacken auf das Alter des mächtigen Mannes im Weißen Haus auf ihn selbst zurück. Mit Mühe argumentierten Trump und sein reichster Unterstützer Elon Musk, die vermutlich neue Kandidatin, Vize-Präsidentin Kamala Harris, sei noch leichter zu schlagen als Biden, von dessen Rückzug man bereits vor einer Woche erfahren habe.

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Umgekehrt allerdings stehen die US-Demokraten zunächst ohne wirklich überzeugende eigene Kandidatur da. Harris hat kein signifikantes Profil gewinnen können. Auch andere Bewerbungen auf dem Konvent nächsten Monat sind bislang durchaus noch nicht völlig ausgeschlossen, wenn auch eher unwahrscheinlich. Ob sich aber Wähler für die demokratische Partei so mobilisieren lassen, scheint nicht sicher.

Ist Harris wirklich die Richtige für die US-Demokraten?

Das ist der Grund, aus dem sich auch die Demokraten selbst nicht ganz gewiss sind, ob Harris die Richtige ist. Es gibt Plädoyers gegen eine Art schlichter Krönungsmesse in Chicago. Das Risiko der Demokraten so kurz vor der Wahl ist nicht mehr und nicht weniger als die Spaltung der Partei. Zwei ehemalige Präsidenten stehen - bislang jedenfalls - nicht zusammen hinter Harris. Die Clintons plädieren mit einigen Gouverneuren für sie. Die Obamas und dazu die ehemalige Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, zeigten sich deutlich zurückhaltender. Eine echte Alternative allerdings haben sie bislang nicht präsentiert.

In Europa und vor allem in Deutschland indes ist ein deutliches Aufatmen zu spüren. Es scheint sich eine Chance zu zeigen, im Umbau der europäischen Sicherheitsarchitektur um Nato und EU künftig doch nicht mit einem egomanen Isolationisten wie Trump am Tisch sitzen zu müssen, sondern mit einer US-Mehrheit, die Europa zugewandt bleibt. Bundeskanzler Olaf Scholz, der noch in der vergangenen Woche Biden in Schutz genommen hatte, würdigte gestern aktuell dessen Rückzug und zollte ihm Respekt.

Die Zeit für dessen Alternative wird nun knapp werden. Vier Wochen sind es bis zum Konvent, gut drei Monate bis zur Wahl - Europa blickt gebannt auf Washington, noch immer die Hauptstadt der Welt.