In der deutschen Politiklandschaft haben zunächst nur wenige diesen 24. Februar 2022 präzise eingeordnet. Zu jenen Menschen gehört Joachim Gauck, Bundespräsident a. D., der angesichts des russischen Überfalls sagte, man sei „mit Schrecken aufgewacht als uns allen klar wurde: Russland greift die gesamte Ukraine an“.
Aus diesen Worten geht der richtige Hinweis hervor, dass der Krieg – zweieinhalb Flugstunden von Berlin entfernt – nicht erst im Februar 2022 begonnen hat. In der Ukraine sterben seit zehn Jahren Menschen für ihre Freiheit.
Bereits Ende 2013 verprügelt die Polizei Demonstrantinnen und Demonstranten auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew. Im Februar 2014 schießen die Sicherheitskräfte mit scharfer Munition, mehr als 100 Menschen werden getötet, 1.000 verletzt. Im April des gleichen Jahres besetzt ein von der Halbinsel Krim eingesickertes Kommando unter Führung von Igor Girkin, einem Reserveoberst des russischen Geheimdienstes, die Stadt Slowjansk im Donbass. Es ist der Beginn des Krieges in der Ostukraine.
Erinnerungen an die Toten im Mittelmeer
Wladimir Putins Schergen töten seit mehr als zehn Jahren Menschen in der Ukraine. Eigentlich ging dieser Krieg von Beginn an auch die großen Staaten in der Europäischen Union an. Statt klug und zielstrebig zu handeln, haben sie lange gezeigt wie hartnäckig sie verdrängen können.
Diese gesellschaftliche und politische Ignoranz weckt Erinnerungen an Ereignisse mit ebenfalls verheerenden humanitären Folgen: die Seenotfälle vor Lampedusa. Im Oktober 2013 kentert vor der italienischen Insel ein Schiff mit 500 geflüchteten Menschen. Nur rund 150 Menschen können gerettet werden. Seit jener Zeit ereignen sich im Mittelmeer regelmäßig Schiffsunglücke.
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Das Interesse in den großen Staaten Europas ist jedoch gering. Drei Jahre später erst ringt sich der Deutsche Bundestag dazu durch, auf dieses „Rendezvous mit der Globalisierung“, wie es der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble nennt, haushaltspolitisch zu reagieren. „Wir müssen uns mehr und mehr daran gewöhnen: Was in der Welt geschieht, hat direkte Auswirkungen auf uns selbst.“
Rufe nach einer gemeinsamen EU-Außenpolitik
Mehr denn je gilt dieser Satz für den Krieg in der Ukraine. Abgeordnete im Europäischen Parlament setzen sich schon seit über zehn Jahren für eine schlagkräftige gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in der EU ein. Zwei Jahre nach dem Beginn des größten Landkrieges in Europa seit 1945 wartet man vergeblich auf greifbare Ergebnisse.
Wer das, was in der Welt geschieht, allzu lange ignoriert, ist umso geschockter, wenn die Lage eskaliert. Auch das hat der 24. Februar 2022 gezeigt.