Scherfede. Dass die Lebensgrundlagen auf dem Planeten Erde nicht unerschöpflich sind, ist keine neue Erkenntnis. In seinem Buch "Die Entdeckung der Nachhaltigkeit" geht der in Lippstadt geborene, heute in Marl lebende Publizist und Kulturhistoriker Ulrich Grober der Kulturgeschichte eines Begriffes nach, der sich seit Rio 1992 mit der Agenda 21 und der Entwicklung der Erd-Charta zur Leitidee für eine zukunftsfähige und gerechte Gesellschaft entwickelt hat. Über die "Erfindung" des Begriffes vor 300 Jahren und seine Karriere sprach Christine Longère mit dem auf ökologische Themen spezialisierten Autor.
Herr Grober, wie kam es, dass ein Beamter des wegen seiner Verschwendungssucht berüchtigten August des Starken zu Beginn des 18. Jahrhunderts einen Begriff prägte, der uns heute sehr modern erscheint?
ULRICH GROBER: Nachhaltigkeitsdenken ist damals wie heute ein Kind der Krise. In seinem Buch "Sylvicultura oeconomica – Anweisung zur Wilden Baum-Zucht" prognostizierte Hans Carl von Carlowitz 1713, dass der "einreissende Holz-Mangel" das Land in den Ruin treiben werde. Und er forderte die "nachhaltende Nutzung" der Wälder, weil sonst "das Land in seinem Esse" – in seiner Existenz – "nicht bleiben" könne, also kollabieren werde. Nicht mehr Holz fällen als nachwächst. Das ist seine eigentlich schlichte Faustformel. Aber die hat es in sich. Sie erklärt nämlich das "Nachwachsen", also die ökologische Tragfähigkeit zum Maßstab der Nutzung – und nicht den "Markt" mit seinem Gesetz von Angebot und Nachfrage.
Welchen Widerhall fanden die Gedanken des sächsischen Oberberghauptmanns?
GROBER: Carlowitz Wortschöpfung "nachhaltend", bald modifiziert zu "nachhaltig", etablierte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts in der Fachsprache der deutschen Forstleute. Im 19. Jahrhundert übersetzte man sie in andere Sprachen, ins Englische zum Beispiel mit "sustained yield forestry". In dieser Fassung wurde der Terminus im späten 20. Jahrhundert zur Blaupause unseres modernen Konzepts "sustainable development". Nachhaltigkeit als Begriff, könnte man sagen, ist ein Geschenk der deutschen Sprache an das globale Vokabular und an die Weltgemeinschaft.
Gab es einen Wendepunkt, von dem aus der Begriff aus dem ökonomischen Denken eines begrenzten mitteleuropäischen Territoriums zum Leitbild für das große Ganze in der globalisierten Welt wurde?
GROBER: Auf den Fotos aus dem Weltall, die um 1968 von den bemannten Mondflügen zur Erde gesendet wurden, sah sich die Menschheit zum ersten Mal in ihrer Geschichte ganz und gar von außen. Ein epochales Ereignis: Schlagartig wurde man sich im "globalen Dorf" bewusst, dass der blaue Planet insgesamt ein geschlossenes, begrenztes System darstellt. Spaceship Earth. Die Grenzen des Wachstums kamen in Sicht und damit der Zwang zur Selbstbeschränkung, zur Nachhaltigkeit.
Heute ist das "Zauberwort" Nachhaltigkeit in aller Munde. Sie mahnen, sorgsam damit umzugehen. Warum?
GROBER: Das Wort ist in das Feuerwerk der Reklame- und Propagandasprache geraten. Nachhaltig ist heute alles, von der Diät bis zum Ausbau der Kapitalkraft. Es gilt, einen Begriff, der tief in unserer Kultur verankert ist, vor seinem inflationären Gebrauch zu retten und sich auf seine eigentliche Bedeutung zu besinnen. Nachhaltigkeit war ursprünglich und ist heute immer noch eines Strategie der Reduktion unseres Naturverbrauchs. Sie erfordert eine Kultur des Teilens. Eine nachhaltige Gesellschaft wird gerechter sein – und egalitärer. Oder ein Traum bleiben.