Paderborn. Man bewegt sich auf schwankendem Steg über einem Abgrund, vollgemüllt mit verstaubtem Theaterfundus. Dinge, die man eher auf dem Dachboden vermutet, wo der ehemalige Schauspieldirektor Harro Hassenreuther (Thomas Heller) seinem Schüler Spitta (Simon Breuer) die Funktion des Theaters zu erklären versucht. Nun ist der Dachboden aber auf gleicher Höhe wie die Mietskaserne, wo Mutter John (Hella-Birgit Maskus), ihr Mann (David Lukowczyk) und die Familie Knobbe wohnen.
Die leicht schrille Inszenierung von Gerhart Hauptmanns "Die Ratten", die am Freitag im neuen Paderborner Theater über die Bühne ging, gibt zunächst einige Rätsel auf. Regisseurin Katja Lauken lässt alle ihre Figuren nahe am Abgrund leben, in den ab und an jemand hinein plumpst. Bruno (Johann Schiefer) macht sich dünne, indem er sich rückwärts über die Rampe nach unten fallen lässt.
Die 1911 uraufgeführte "Berliner Tragikomödie" spielt normalerweise im Kern mit zwei Zuordnungen: In der Wohnung der Frau John, die ihr eigenes Kind verloren hat und sich das Neugeborene der Dienstmagd Pauline Piperkarcka (Meret Engelhardt) unterschiebt, bis die wahre Mutter Stress macht und dafür von Frau Johns Bruder Bruno umgebracht wird. Weiter oben, besser im Orkus des wie auch immer Klassisch-Humanistischen, findet die Kunst statt, oder was man dafür hält.
Auch wenn diese Zuordnungen in der aktuellen Inszenierung verschwimmen, sind sie doch gut zu erkennen, was an starken Bildern und großen schauspielerischen Leistungen liegt. Erstmal in der flüssigen Beherrschung von allerlei Mundarten, dem prolligen Berlinerisch des Ehepaars John, einem oberschlesischen Dialekt, den man auch Wasserpolnisch nennt, von Pauline Piperkarcka, dem kernigen Ostpreußisch von Hausmeister Quaquaro (Willi Hagemeier).
Doch sind es auch genau diese anstrengenden Dialekte, die viel Kraft kosten, das Ganze schnell zum Regionalstück reduzieren und somit Entfremdung schaffen. Außerdem neigt jeder Dialekt sprechende Schauspieler zum Chargieren, was mal mehr mal weniger und in richtig guten Momenten überhaupt nicht durchschimmerte. Die gab es reichlich: Als Pauline von Frau John die Wahrheit über ihr Kind erfährt, ein packender Dialog, der plötzlich eine Dramaturgie entfaltet, die pure Spannung liefert. Eine wirklich hinreißende Selma (Laura Gericke), als bis an die Grenzen überfordertes Kind, authentisch bis zur Schmerzgrenze, die eigentliche Entdeckung des Abends.
Es gab auch dramaturgisch fürchterliche Momente, angereichert mit dem, was wohl Humor oder Slapstick sein soll und eigentlich nur laut ist. Wenn Humanist Hassenreuther sich mit Alice Rütterbusch (eine höchst undankbare Rolle für Anna Schönberg) paart, bleibt kein Klischee unbedient. Wir sehen quasi die Reinkarnation des Herrenwitzes.
Wenn Hassenreuther seinen Schauspielschüler Spitta (Simon Breuer) unterrichtet, klingt das wie in Loriots Jodeldiplom. Soviel zur Aktualität dieser Inszenierung. Irgendeine Läuterung vollzieht sich in Hassenreuther, der zunächst nur als Possenreißer, später als kluger Analyst des Geschehens auftritt.
Aber wann und warum? Doch der Vorhang fällt, man schaut betroffen, viele Fragen bleiben offen: Welche tiefere Bedeutung liegt darin, das Baby in der Frequenz eines Bass-Baritons schreien zu lassen? Gibt es eine zeitliche Zuordnung? Der klassische Boiler mit Waschbecken, Mutter Johns Kittelschürze, auch der Kinderwagen erinnern ein wenig an Nachkriegsdeutschland. Der Rest spielt irgendwann, man weiß es nicht.