BIELEFELD

Wie das Leben Miranda July vor dem kreativen Burnout rettete

38-Jährige befragte Menschen in Los Angeles zu ihrem Leben

Miranda July pendelt zwischen niedlich und schräg. | © FOTO: DPA

27.03.2012 | 27.03.2012, 00:00

Bielefeld. Als Mirandy July mit dem Drehbuch zu ihrem zweiten Film "The Future – Die Zukunft" nicht voran kam, trat sie die Flucht nach vorn an. Sie musste etwas tun, um nicht irgendwann nichts mehr zu tun. Aus dem Bett zu steigen zum Beispiel. Das 38-jährige Mulitalent zog in Los Angeles los, um Menschen zu ihrem Leben, ihren Hoffnungen und Ängsten zu befragen.

Deren Telefonnummern hatte sie in dem Kleinanzeigenheftchen Penny Saver gefunden, der jeden Dienstag in ihrem Briefkasten lag. Die Menschen hatten inseriert, um Ochsenfrosch-Kaulquappen, Föne oder Plüschbären anzubieten. July bot jedem 50 Dollar für seine Geschichte. Die meisten lehnten ab, ein paar ließen sich darauf ein. Es sind anrührende, melancholische und seltsame Geschichten, auf die die Amerikanerin gestoßen ist.

Pam verkauft die Alben mit den Urlaubsfotos fremder Leute, die sie sammelte, weil sie selbst nie reisen konnte. Der Endsechziger Michael möchte seine schwarze Lederjacke loswerden und hat nur noch ein Ziel im Leben: øseine Geschlechtsumwandlung. Die Fotos von Brigitte Sire zeigen nicht nur die Pfennigfuchser-Inserenten, sondern auch, wie sie leben.

Kein Raum für freie Erfindung

Als July dann noch auf Beverly mit ihren Vögel, Katzen und Schafen trifft, empfindet sie das pralle Leben als bedrohlich. Es lässt ihr keinen Raum für freie Erfindung, für "aus den Fingern gesogene Geschichten, die mir das Gefühl gaben, gebraucht zu werden – ober überhaupt irgendein Gefühl".

Die ablenkende Feldforschung wirkte. Nicht nur gelang es July, ihren Film "The Future" fertigzustellen, der 2011 auf der Berlinale uraufgeführt wurde. Aus den Interviews wurde auch ein Buch mit dem Titel "Es findet dich". Film und Buch stehen jeweils für sich, aber das Zusammenspiel entfaltet seinen ganz besonderen Reiz, weil es Einblick in die Werkstatt der Künstlerin gibt.

Mit ihren immer ein wenig staunend in die Welt schauenden blauen Kulleraugen, den Löckchen und ihrem originellen Vintage-Style wirkt Miranda July selbst ein bisschen wie der Welt abhanden gekommen. Dabei ist es gerade das Alltägliche, das July in ihren Büchern, Filmen und Kunstprojekten tragikomisch beleuchtet.

Briefwechsel mit einem Mörder

In "Es findet dich" erfährt man auch einiges über Miranda July. Zum Beispiel, dass sie als 14-Jährige mit einem inhaftierten Mörder Briefe austauschte – drei Jahre lang. Daraus entstand ihr erstes Theaterstück. "Ich schrieb das Stück, weil ich unsere Beziehung nicht erklären konnte . . . ich hatte Sehnsucht danach, auf umfassendere Weise verstanden zu werden."

Die menschliche Existenz ist ein Rätsel, dem sich July scheinbar naiv nähert. Ihre Erkundung kann so klar und elegant ausfallen wie in "Es findet dich" – oder so schwerfällig und gekünstelt wie in dem Film "The Future".

Information
Miranda July: "Es findet dich", 220 S., Diogenes, 22,90 Euro. Der Film "The Future" erscheint am 25. Mai auf DVD.

Der Film erzählt von Jason und Sophie, gespielt von July. Die Mittdreißiger wollen ihrer Beziehung einen Kick geben, indem sie eine kranke Katze adoptieren. Pfötchen ist die Erzählerin des Films. Typisch July. Das Paar packt die Panik vor der Verantwortung und dem Verlust der Freiheit. Um die vier verbleibenden Wochen ohne Katze zu nutzen, kündigen sie ihre Jobs und gehen offline. Sophie scheitert: Statt wie geplant einen Tanz für YouTube zu erschaffen, schaut sie sich nur die Tänze anderer an.

Veränderte Wahrnehmung

Auch Miranda July verlor sich beim Schreiben ihres Skripts immer wieder im Netz. Die Menschen darin erschienen ihr realer als das wahre Leben und die Inserenten des Penny Saver, von denen kaum einer einen Computer hatte. Ohne Webpräsenz kamen sie ihr vor "wie Cartoonfiguren, denen eine Dimension fehlt", schreibt July. Eine interessante Reflexion darüber, wie das digitale Leben die Wahrnehmung verändert.

Die Filmfigur Jason geht als Umweltaktivist von Tür zu Tür. Einer der Menschen, die ihm begegnen, ist der 81-jährige Joe, der seiner Frau Karten mit frivolen Limericks schreibt. Joe ist kein Schauspieler. Miranda July hatte ihn auf ihrer Penny-Saver-Tour kennengelernt. Die Szenen mit ihm spielen in seinem eigenen Haus und gehören zu den bewegendsten Momenten von "The Future". Joe ist echt, das pralle Leben.

Virtuos jongliert July mit Ausdrucksformen wie Film, Performance, Literatur, Video oder Netzprojekten. Alles hängt mit allem zusammen, weil July eine Frage antreibt: "Eigentlich möchte ich immer nur eins wissen, nämlich, wie andere Menschen durchs Leben kommen – wie wissen sie, wohin mit ihrem Körper, Stunde für Stunde, und wie halten sie es darin aus?"