BIELEFELD

Theaterforscherin Hentschel: "Kinder zum Staunen bringen"

Interview über Entwicklungen im Kindertheater

04.11.2011 | 04.11.2011, 00:00
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Ingrid Hentschel | © FOTO: FH

Bielefeld. Das Kindertheater hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Es werden immer mehr Bühnenstücke angeboten, auch für unter Dreijährige. Joachim Göres sprach anlässlich einer Tagung in Hannover mit Ingrid Hentschel, Professorin für Theaterwissenschaft am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Bielefeld, über die aktuelle Entwicklung.

Frau Hentschel, junge Besucher stehen angesichts der alternden Bevölkerung besonders im Blick der Theater, die zunehmend Theaterpädagogen einsetzen. Sie suchen den Kontakt zu Schulen, bereiten Theaterbesuche vor und studieren mit Schülern Stücke ein. Als Sie vor 25 Jahren Ihre Dissertation über das Kindertheater schrieben, gab es dagegen viel weniger solche Angebote und kaum Literatur zum Thema. Hat sich also alles zum Positiven verändert?
INGRID HENTSCHEL: Das kann man sagen. Allerdings sieht sich das Theater für Kinder heute einem zunehmenden Druck ausgesetzt, bestimmte Erwartungen zu erfüllen. Es wird gegenwärtig viel mehr mit Kindern und Jugendlichen unter professioneller Anleitung Theater gespielt. Zudem finden mehr mobile Produktionen statt, wo zum Beispiel ein oder zwei Schauspieler in die Schulen gehen und Stücke aufführen. Gleichzeitig gibt es aber immer weniger größere Produktionen speziell für Kinder im Theater. Letztlich spart man Geld. Es gibt eine weitere Entwicklung, die aus meiner Sicht problematisch ist: fast alles, was Kindern auf der Bühne geboten wird, soll in irgendeiner Weise mit Bildung zu tun haben und sich erklären.

Was meinen Sie damit genau?
HENTSCHEL: Das schlechte Abschneiden deutscher Schulen beim Pisa-Test hat große Ängste ausgelöst und auch das Theater soll seitdem dazu beitragen, Defizite abzubauen. Es gibt zahlreiche finanzielle Fördermittel, die die Theater bekommen, wenn sie mit ihren Stücken einen bestimmten Zweck erfüllen. Vor allem das Präventionstheater boomt seitdem mit Stücken, in denen es um Fettleibigkeit, sexuellen Missbrauch, Drogen, Aggression, Trauer, Verlust, Scheidung und Mülltrennung geht.

Information

Zur Person

  • Ingrid Hentschel hat derzeit eine Professur an der Fachhochschule Bielefeld, Fachbereich Sozialwesen, inne. Ihre Lehrgebiete sind unter anderem Ästhetik und Kommunikation mit den Schwerpunkten Theater und Literatur, Kultur und Bildung, Grundlagen und Praxis des szenischen Spiels.
  • 1988 promovierte sie mit einer Arbeit über "Kindertheater – Die Kunst des Spiels zwischen Phantasie und Realität".

Was ist daran so schlecht?
HENTSCHEL: Es ist nicht schlecht, sich damit auf der Bühne auseinanderzusetzen, aber es schränkt die künstlerischen Potentiale des Mediums Theater ein, sich in einem Stück didaktisch auf ein Thema zu konzentrieren. Aus meiner Sicht ist ein Kindertheater wünschenswert, das nicht für bestimmte Zwecke eingespannt wird, sondern frei von pädagogischen Aufträgen darauf vertraut, durch die Faszination des Theaters die Kinder zum Staunen zu bringen und ihre Erfahrungen zu erweitern. Dieses Vertrauen fehlt oft, die Angst überwiegt, die Kinder nicht mehr zu erreichen – eine Sorge, die meines Erachtens nicht berechtigt ist. Wichtig ist, sich klarzumachen, dass die heutige Tendenz im Kindertheater nicht Ausdruck einer veränderten Kinderrealität, sondern Ausdruck der Lebensangst der Erwachsenen ist, die das gefährdete Kind in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen.

Szene aus dem Stück "Ola meine Schwester" des Grips Theaters. - © FOTO: DPA
Szene aus dem Stück "Ola meine Schwester" des Grips Theaters. | © FOTO: DPA

War das denn früher anders?
HENTSCHEL: Sicher. Anfang der 70er Jahren galten Kinder als unterdrückt. Das Kindertheater sah seine Aufgabe darin, ihnen beizustehen, sich zu wehren, den Mut und Widerstandsgeist zu stärken. Auf der Bühne wurden meist pfiffige Kinder gezeigt, die den Erwachsenen gegenüber überlegen sind und ihnen auf die Sprünge helfen. Das Buch von Melchior Schedler über das Kindertheater mit dem Titel "Schlachtet den blauen Elefanten" von 1973 war programmatisch für eine ganze Bewegung – dahinter stand die damals verbreitete Überzeugung, dass mit Traumwelten, Märchen und dem schönen Schein auf der Bühne aufgeräumt werden müsse, damit Kinder die Realität erkennen und verändern können. Ab den 80er Jahren gab es eine psychologische Phase im Kindertheater, in dem Märchen und Mythen wieder eine größere Rolle spielten. Es folgten Stücke, in denen die Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen verwischen – wo niemand aufbegehrt, sondern Kinder im Einklang mit den Erwachsenen leben und ähnliche Probleme haben wie sie. Heute unterscheiden Theatermacher nicht mehr grundsätzlich zwischen Erwachsenen und Kindern. Kindertheater ist vor allem Theater und erst in zweiter Linie für Kinder gedacht.

Mit Kindertheater wurde bisher das Theater für Kinder zwischen drei und zwölf Jahren bezeichnet. Zunehmend werden aber Stücke für die ganz Kleinen ab eineinhalb Jahren inszeniert. Wie beurteilen Sie diesen neuen Trend?
HENTSCHEL: Gerade gut ausgebildete Eltern beginnen immer früher damit, ihren Nachwuchs mit einer Vielzahl von Bildungsangeboten zu fördern, auch zu überfordern, und das Theater ist von dieser Entwicklung nicht ausgenommen. Das spricht aber nicht gegen ein Theater für die Allerkleinsten.

Erwachsene betonen oft, wie wichtig das Theater für Kinder ist. Gibt es überhaupt Studien, die das bestätigen?
HENTSCHEL: Diese Frage taucht häufig auf – im Gegensatz zum Theater für Erwachsene, das sich nicht extra legitimieren muss. Was man sagen kann ist, dass Kinder im Theater lernen, wie man Zeichen und Symbole entschlüsseln kann. So wird auch die Einfühlung in andere Personen gefördert. Und – was sehr wichtig ist – die jungen Zuschauer merken, dass sie mit ihren eigenen Gefühlen, die sie oft nicht artikulieren können, nicht alleine dastehen, sondern dass es Menschen gibt, die sie verstehen. Um nochmal zu Ihrer ersten Frage zurückzukommen: Positiv ist sicherlich, dass heute im Kindertheater die Themen- und Formenvielfalt viel größer ist und Kinder auf ganz unterschiedliche Weise mit ihren Ängsten und Sorgen ernst genommen werden.