Franz Josef Wagner präsentiert "Brief an Deutschland"

Autobiographisches Buch offenbar ein bisschen Genie und ein bisschen Gossen-Goethe

29.12.2010 | 29.12.2010, 00:00
Franz Josef Wagner. - © FOTO: DPA
Franz Josef Wagner. | © FOTO: DPA

Bielefeld. Schriftsteller wollte er werden, doch Franz Josef Wagner wurde Chefredakteur bei der Bunten und Kolumnist bei der Bild. Mit "Brief an Deutschland" hat der sogenannte Gossen-Goethe sein inzwischen sechstes Buch veröffentlicht – eine fragmentarische Autobiographie voller Erinnerungen dieses intellektuellen Boulevardmannes.

Wagner war mittendrin, 1973 in Israel, um als Reporter über den Jom-Kippur-Krieg zu berichten. Er soff mit Andreas Baader in Schwabing, sie zogen, "ein halbes, dreiviertel Jahr lose miteinander in München herum". In Wagners Erinnerung hatte er "ein weiches Gesicht, dunkle Haare, blaue Augen, jedenfalls flirteten die Mädchen zuerst mit ihm und nicht mit mir."

So ist es zu lesen in diesem 160 Seiten umfassenden Brief. Nachts war Wagner der Säufer, der Raucher, tagsüber bestand sein Leben aus Körperverletzungen, Verkehrsunfällen und Diebstählen – Wagner der Bild-Reporter: "Ich war der schlechteste Foto-Beschaffer von Selbstmördern, erschossenen Taxifahrern, verunglückten Bergsteigern." So sieht er seinen Job Jahre später.

Boris Beckers Ich-Erzähler

Er war in der Nähe, als Boris Becker 1985 Wimbledon gewann. "Er hatte zu diesem Zeitpunkt noch kein Mädchen geküsst. Er hatte keinen Führerschein. Er war nicht aufgeklärt", schreibt Wagner. Zwei Jahre war er Boris Beckers Ich-Erzähler in der Bild. "Vielleicht bin ich mitschuldig, dass Boris heute die Klatschspalten füllt, weil ich ihn zu einem Außerirdischen hochgeschrieben habe, einem Wesen das die Sterne berührt." Damit verdiente Wagner sein Geld.

Er war da, im Ginsterweg 17, im Haus der Familie Schleyer. "Ich weiß nicht, wie die Schleyers eingerichtet waren. Ich habe keine Möbel, keine Bilder in Erinnerung, vielleicht weil ich mich nicht traute, mich umzusehen oder den Blick nicht von Frau Schleyer wenden konnte, der Witwe Deutschlands, deren Mann aus Staatsräson geopfert worden war." Es ist ein Blick hinter die Kulissen, er ist jetzt mittendrin, der Leser.

Aber das Buch beschreibt mehr als die Stationen im Leben eines Reporters, es ist ein Roman, der zu Teilen auch die Entwicklung Deutschlands streift. Da ist die Flucht der Mutter vor der Roten Armee, den "älteren Bruder mit einem Strick an ihrem Handgelenk, mich an der Brust". Und da ist der Vater, dem die Mutter "jeden Tag mit einer Salbe die Füße eingeschmiert und gewickelt" hat, weil er sie sich in Russland erfroren hat.

Ein bisschen Genie, ein bisschen Wahnsinn

Mit 17 haut Wagner von zuhause ab, geht nach Genf, entsorgt den Müll der Passagiere bei Swissair, zieht weiter nach Paris, trifft Sartre. Stolz ist er, als er sich als Boulevardjournalist einen Porsche leisten kann. Es hätte auch etwas anderes aus ihm werden können. Vielleicht nicht gerade Goethe, aber ein Schriftsteller wie sein Kumpel Jörg Fauser. Ein bisschen Genie, ein bisschen Wahnsinn.

Er schreibt stattdessen 40-Zeiler in der Bild, Briefe an Politiker, Promis oder was ihm gerade so einfällt. Gequält soll er sich für das Buch haben, und er macht das zum Thema in seinem Buch. "Ist das ein guter Anfang? Ich denke, der beste Satz ist die Wahrheit." Das Buch ist eine Rückschau auf sein abenteuerliches Leben, nicht unbedingt ein Brief an Deutschland, eher ein Brief an sich selbst.

  • ´Franz Josef Wagner: "Brief an Deutschland", Diederichs, 160 Seiten, 17,99 Euro.