Interview

Psychologe Dr. Leon Windscheid: „Unsere Gesellschaft verlangt Perfektion“

Jeder träumt vom perfekten Leben. Aber was passiert, wenn wir es erreicht haben? Ist es überhaupt erstrebenswert? ?Mit diesen Fragen beschäftigt sich Dr. Leon Windscheid und findet Antworten.

Deutschlands bekanntester Psychologe: Dr. Leon Windscheid tourt mit seinem Bühnenprogramm „Alles Perfekt“ durch Deutschland und macht auch Halt in Bielefeld. | © Marvin Ruppert

08.02.2025 | 08.02.2025, 11:30

Ihr neues Programm heißt: Alles perfekt. Ist Ihr Leben perfekt?

Ne, leider und vielleicht glücklicherweise nicht. Ich würde sogar fast sagen, weit davon entfernt. Von außen höre ich oft, du hast ja das Schiff und damals das Geld im Fernsehen gewonnen und es wirkt doch alles so perfekt. Ich kann mir gut vorstellen, dass es von außen den Eindruck des perfekten Lebens erwecken kann, aber wie vermutlich bei uns allen gibt es auch bei mir Unsicherheiten, Widersprüche und Dinge, mit denen ich nicht so zufrieden bin. Ich weiß um meine Privilegien und bin dankbar dafür, aber auch ich werde manchmal nachts um 4 Uhr wach, meine Gedanken kreisen und ich kann nicht wieder einschlafen. Ich habe manchmal so viel zu tun, dass ich am Anfang eines Urlaubs krank werde, weil mein Körper mir signalisiert, dass es zu viel wird. Ich würde meine Eltern gerne häufiger besuchen, mache es dann aber doch nicht. Also all diese Dinge, die – glaube ich – wirklich jeder kennt, die gibt es auch in meinem Leben.

Ist es überhaupt erstrebenswert, ein perfektes Leben zu führen??

Das ist die viel spannendere Frage: Was würde ein perfektes Leben eigentlich bedeuten? Es gibt dazu in der Psychologie eine Diskussion – dazu sind die Daten leider nicht so gut und die Studien auch eher schwach – manche Forschende fragen, ob es vielleicht gar nicht wünschenswert ist, die Perfektion zu erreichen? Wenn ich das nämlich geschafft habe, sitze ich da in meiner Perfektion wie die Made im Speck mit meiner Goldmedaille um und dann? Wir wollen uns doch weiterentwickeln und es ist doch auch schön, wenn Träume nicht wahr werden, denn sie sterben auf der Schwelle der Erfüllung. Genauso verhält es sich mit Zielen oder Projekten. Wer versucht, Perfektion zu erreichen, der entfernt sich eher von sich selbst, als dass es einem besser geht.

Wie können wir denn den Drang nach Perfektion ablegen? Ist das auch ein gesellschaftliches Thema?

Ich erzähle den Menschen am Anfang der Show, in was für einer Welt und Zeit wir hier mittlerweile leben. Ein Beispiel: In Schweden wird jetzt der Verkauf von Anti-Aging-Produkten aus der Apotheke an unter 15-Jährige reguliert – das ist unsere Welt! Unsere Gesellschaft verlangt Perfektion: Jeder muss auf der Yogamatte strahlen, die perfekte Mutter sein, Leistung bringen und dann wundert es nicht, dass schon Kinder diesem Perfektionswahn verfallen.

Ist Ihre Show dann so etwas wie eine große Gruppentherapie oder was erwartet die Bielefelderinnen und Bielefelder in Ihrem Programm?

Ganz und gar nicht. Denn Psychotherapie ist für Menschen, die psychische Störung haben und die von Menschen betreut werden, die dafür ausgebildet sind. Ich dagegen versuche den Leuten neue Impulse für ihren Alltag mitzugeben, wobei es mir nicht darum geht, die 180-Grad-Wende oder das bessere Leben zu versprechen. Meine Show ist wie eine Achterbahnfahrt mit Ups und Downs: Es gibt ganz ernste Momente, in denen ich merke, 3.000 Leute in Bielefeld saugen die Informationen auf und zwei Minuten später lachen wir gemeinsam über die Ergebnisse eines Liveexperiment, weil wir uns selbst hinterfragt haben und die Antworten uns überraschen. Dieses Zusammenspiel macht es für mich am Ende aus.

„Träume sterben ?auf der Schwelle der Erfüllung“

Warum hören Ihnen die Menschen so gerne zu?

Ich mache das, was ich tue, mit sehr großer Leidenschaft und in einer Zeit, in der viele merken: Es ist zu viel. Zu viel Trump, zu viel Botox, zu viel Dubai-Schokolade. Und viele merken auch: So wie wir bisher mit uns umgegangen sind – höher, schneller, weiter, da hart sein, dort keine Schwäche zeigen dürfen – ist das kein gutes Rezept für ein Leben, über das man am Ende sagen kann, es war vielleicht nicht perfekt, aber ein gutes Leben. Ich versuche, dem etwas entgegenzuhalten. Dass das Leute interessiert, begeistert mich, aber ich finde es nicht verwunderlich. Eigentlich ist es schade, dass wir dafür so lange gebraucht haben.

??Umso schöner ist die Entwicklung hin zu einem Thema, für das immer mehr Menschen sensibilisiert sind.?

Absolut. Ich habe mich immer dafür stark gemacht, dass das Stigma um psychische Krankheiten wegbricht, aber wir müssen auch aufpassen, dass uns das nicht kippt. Denn nicht alles ist ein Trauma oder Trigger. Wenn wir alles zum psychischen Problem machen, dann erweisen wir denjenigen, die wirklich betroffenen sind, einen Bärendienst, weil die nicht mehr ernst genommen und die Systeme überlaufen werden. Wir brauchen ein noch besseres Verständnis dafür, was psychisch krank eigentlich bedeutet. Dafür gibt es in Deutschland die psychotherapeutische Sprechstunde, wo die Anliegen von Patienten von Profis eingeordnet werden: Ist eine therapeutische Behandlung notwendig oder kommt man auch ohne Therapie klar? Es gibt Herausforderungen im Leben, die man aushalten muss und da müssen wir glaube ich einfach eine gesunde Balance finden.

Wir leben in herausfordernden Zeiten. Jede Nachricht zieht einen weiter in ein immer tiefer werdendes Loch und viele fühlen einen Weltschmerz, der kaum auszuhalten ist. Haben Sie Tipps, wie man trotz allem die Zuversicht nicht verliert?

Eigentlich ist das eine gesunde Reaktion auf die Krisen in der Welt und gleichzeitig mein erster Tipp: In dem Moment, in dem etwas herausfordernd ist, man das Gefühl bekommt, hier gerät etwas aus den Fugen, ist es doch gut, wenn ich eine Traurigkeit oder sogar Wut spüre – das motiviert mich doch, etwas zu unternehmen. Und wenn wir das jetzt unterdrücken würden, wie soll dann Veränderung entstehen? Negative Emotionen in einem gesunden Maße wollen nur eins, unser Bestes. Sie sind da, um uns darauf hinzuweisen, dass etwas nicht passt, und um Energie bereitzustellen, aktiv zu werden.

Wollten Sie schon immer im Rampenlicht stehen?

Ein typischer Windscheid ist keiner, der in der ersten Reihe steht. Ich bin da einfach reingestolpert. Damals, als ich zu „Wer wird Millionär“ gegangen bin, wollte ich die Kohle haben und hatte nicht die Absicht, darauf eine Karriere aufzubauen. Anschließend kam ein Künstlermanagement auf mich zu, und die haben nicht lockergelassen, bis sie mich überredet haben. Und dann habe ich meine erste Show in Düsseldorf gespielt – mit weißem Kittel und selbstgebasteltem Hirnscanner, das muss furchtbar gewesen sein. Aber zu sehen, dass ich Wissenschaftskommunikation auch auf die Bühne bringen kann, hat mich sehr gefreut. Mittlerweile bin ich, wenn ich auf die knarzenden Bühnenbretter trete, wie ein Fisch, der ins Wasser darf – komplett in meinem Element.

Über den Intererviewpartner

Dr. Leon Windscheid ist vermutlich Deutschlands bekanntester Psychologe. Das erste Mal Schlagzeilen machte er 2015 als elfter Kandidat bei „Wer wird Millionär“, der die Million, gewann. Von dem Geld kaufte er sich ein Schiff, ehe er sich wieder seinem Studium widmete und promovierte. Seitdem gibt Leon Windscheid in Podcasts oder als Moderator im ZDF wissenschaftlich fundierte Einblicke in die menschliche Psyche – immer mit Witz und nie überheblich. ?In seinem aktuellen Bühnenprogramm nimmt der Senkrechtstarter der Psychologie sein Publikum mit auf eine atemberaubende Expedition durch den eigenen Kopf. Ein Abend voller Gedanken, von denen man sich nachher wünschen wird, man hätte sie schon vorher gekannt.

Leon Windscheid live in Bielefeld

Samstag, 22. Februar, 20 Uhr, Seidenstickerhalle, Bielefeld;

Karten (ab 37,49 Euro): NW und hier