Herr Von Deylen, wie wird man eigentlich Komponist?
CHRISTOPHER VON DEYLEN: Learning by doing. Natürlich kann man das alles studieren oder bei Youtube Tutorials anschauen, wie man Songs schreibt. Man kann das Handwerk lernen, aber davon würde ich abraten. Denn am Ende braucht man Talent und ein Gefühl dafür. Durch das Studieren kann man einen Teil des Talents zwar ersetzen, aber am Ende gibt es da eine Lücke, die gefüllt werden muss. Mit Talent und vor allem auch mit Glück. Dagegen kann man nicht anstudieren. Ich würde jedem empfehlen, die Stücke, die einem gefallen, gewissermaßen nachzukomponieren, also nachzuspielen und zu gucken: Wie haben die das gemacht und warum spricht mich dieser Refrain eigentlich besonders an? Welche Akkorde wurden benutzt und welche Melodiesprünge? Das muss man dann lange und immer wieder machen, bis man ein Gefühl dafür bekommt und eine Art Baukasten entsteht, aus dem man dann schöpfen kann. Natürlich ist es sinnvoll, diesem Baukasten auch eigene Ideen hinzuzufügen, denn dann bekommt man eine Melange, aus der diese magischen 15 Minuten Musik entstehen können, die wir Musiker alle ein Leben lang jagen.
Wie würden Sie Ihre musikalische Sozialisation beschreiben?
Für die Generation X, zu der ich selbst gehöre, war Musik ein wesentliches und prägendes Mittel für den Selbstausdruck. Es gab ja nicht viel anderes. Vielleicht noch Klamotten, aber dann wurde es auch schon eng. Mehr gab es nicht, um sich auf dem Schulhof zu einer bestimmten Kaste zugehörig zu machen. Das aus heutiger Sicht Erstaunliche: Damals gab es die Popper und die Rocker, es gab Punker, Zecken und Ökos – komischerweise haben wir uns aber trotzdem gegenseitig zum Geburtstag eingeladen und sind am Wochenende in dieselben Clubs und Discos gegangen. Trotz teils diametral unterschiedlicher Auffassungen haben wir uns gut verstanden. Da wurde keiner gecancelt und da hat man nicht gesagt: Nee, das ist ein Punk, mit dem spreche ich nicht oder neben den setze ich mich nicht im Schulbus.
Und heute?
Heute ist Musik nur noch eines von ganz vielen Ausdrucksmitteln für Menschen, um sich darzustellen, um ihr Leben zu definieren. Da gibt es mittlerweile ganz andere Möglichkeiten, die eine viel größere Stärke und Schlagkraft haben als Musik. Deshalb rückt die Musik auch immer weiter in den Hintergrund. Es ist „nice to have“ – aber auch ein bisschen egal.
Sie sind unter dem Namen „Schiller“ seit 25 Jahren international erfolgreich. Das Besondere an Ihrer Musik und Show ist, dass Sie alle mitnehmen: Schiller steht für generationen- und szeneübergreifendes Konzept.
Ich versuche es zumindest. Aber wenn ich anfangen würde, darüber nachzudenken, was ich tun muss, um möglichst viele Menschen aus möglichst unterschiedlichen Kreisen mitzunehmen, wäre mir das zu akademisch. Da bleibt die Emotion auf der Strecke. Vielleicht liegt es an meiner immer noch vorhandenen Naivität und Unbefangenheit, dass ich mit meinen Konzerten Leute erreiche, die sonst vielleicht einer ganz anderen musikalischen Welt unterwegs sind. Denn wenn man mal fragt, was die Leute sonst noch so hören, dann ist da zwischen Rammstein, Helene Fischer, Roland Kaiser und Led Zeppelin alles dabei. Das finde ich wirklich spannend, dass Menschen, die ganz unterschiedliche musikalische Interessen und Lebensentwürfe haben, sich zur Musik von Schiller zusammenfinden. Das ist natürlich ein großes Privileg.
Die „Wanderlust“-Tour wird sehr ?elektronisch ?sein und viel ?Energie haben.“
Das musikalische Programm der aktuellen „Wanderlust“-Tour ist wie ein Ausflug durch ein Vierteljahrhundert. Wenn die Zeit für ein Best-of gekommen ist: Fühlt man sich da mit 53 Jahren eher geehrt oder alt?
Weder noch. Alt fühle ich mich sowieso nicht und ich erschrecke mich eher, wenn jemand sagt: „Herr Schiller, Sie sind jetzt 53, wie ist das denn so, gibt es da überhaupt noch Dinge, die man machen möchte, oder hat man alles schon gesehen?“ – da reagiere ich immer etwas gereizt, weil ich für mich eher das Gefühl habe, dass ich ganz am Anfang stehe. Ich zähle ja nicht die Jahre und blicke auf das Erreichte zurück, sondern auf das, was vor mir liegt, was es noch zu tun gibt und was ich gerne noch erleben möchte. Und da ist die Liste gefühlt doppelt so lang wie ein dickes Telefonbuch. Auf der anderen Seite freue ich mich natürlich, dass es nach so vielen Jahren so viele Alben gibt und so viele Stücke, aus denen ich ein Programm zusammenstellen kann.
Was erwartet das Publikum?
Viele Sachen habe ich live noch nie gespielt. Die „Wanderlust“-Tour wird sehr elektronisch sein und viel Energie haben, auch weil es eine Club-Tour ist. Ich lege ja mittlerweile auch öfter wieder auf, was mir wahnsinnigen Spaß macht. Leider gilt es für viele Menschen heute ja schon fast als problematisch, einfach nur Spaß zu haben. Letztes Jahr war ich auf einem Konzert von Roland Kaiser in der Waldbühne in Berlin. Ich wusste natürlich im Vorfeld, dass Roland Kaiser ein Phänomen ist, seit Jahren riesengroß und ausverkauft, „Kaisermania“ und wenn nix geht, geht Roland Kaiser trotzdem noch. Ich konnte mir darunter aber nur wenig vorstellen. Natürlich kannte ich die Stücke, logisch, bin aber ansonsten relativ neutral in die Waldbühne gegangen. Ich wollte es weder schlecht noch gut finden, sondern einfach mal gucken. Es war absolut faszinierend, im ersten Moment, überraschend und irgendwann so nach einer Stunde auch ganz beruhigend, da zehn- bis fünfzehntausend Menschen zu sehen, unterschiedlicher Herkunft, Sozialisation, Bildung, Aussehens und Alters – die einfach nur Spaß haben wollen.
Also eine Art Gruppentherapie?
Es ist ja so: Man ist von morgens bis abends von Zeigefingern, Empörung und Appellen umgeben. Du sollst dies nicht und das nicht, es gibt einen gewissen gesellschaftlichen Druck, doch gefälligst eine Haltung an den Tag zu legen. Einfach nur einen schönen Abend und Spaß zu haben, ist in diesem komischen neuen Biedermeier, wie ich das manchmal nenne, schon fast verpönt. Weil das keinen „Purpose“ hat oder nicht „mindful“ ist oder keine „Message“ drin ist. Den Merkel-Jahren sagt man ja nach, dass sich ein gewisser Mehltau über das Land gelegt hat und auch jetzt empfinden viele Menschen wieder eine Art bleierne Schwere. Der Deutsche neigt natürlich auch zur Schwere, wir haben ja auch die Romantik erfunden. Umso beruhigender finde ich es, dass es bei meinen Auftritten dann doch noch so viele Menschen gibt, die neben der ganzen Schwere des Alltags den Wunsch haben, einfach mal zwei Stunden Spaß zu haben und die Unbefangenheit der 90er-Jahre wiederzuentdecken.
Sie haben sich vor einigen Jahren dazu entschieden, sich von den meisten materiellen Dingen zu trennen und vieles zu verschenken. Ist es dabei geblieben?
Nein, ist es nicht. Es war eine tolle Erfahrung und ich würde mir aktuell wünschen, ich wäre wenigstens wieder in der Nähe davon. Ich habe mich inzwischen in der Nähe von dem Ort niedergelassen, in dem ich aufgewachsen bin, weil ich ein Piano-Album gemacht habe und einen Raum brauchte, in den ich meinen Flügel stellen konnte. Mittlerweile bin ich verheiratet und habe zwei Katzen und wenn man Katzen hat, jeder Katzenbesitzer weiß das, verdoppelt sich der Hausstand praktisch automatisch. Wenn man schon keine Kinder hat, gibt es nun Kratzbäume, Katzenhäuser und Spielzeug, über das man ständig stolpert, während die Katzen einen fragend angucken, was sie denn damit machen sollen und dann doch wieder am Sofa kratzen. Aktuell dürfte der Hausstand also ruhig wieder ein bisschen schlanker sein. Es war aber auch nie als dogmatische Entscheidung gedacht, mich von den Dingen zu trennen und mit zwei Koffern durch die Gegend zu ziehen. Alles hat seine Zeit.
Über den Interviewpartner
Christopher von Deylen alias Schiller ist am 15. Oktober 1970 in Visselhövede (Niedersachsen) geboren. Sein elektronisches Musikprojekt hat er nach dem deutschen Dichter Friedrich Schiller benannt. Seine kreativen Ideen mischen sich mit sanften sphärischen Klängen, Gesang oder Rezitationen, für die er sich wechselnde Gastmusiker und Sprecher einlädt. Auf ein bestimmtes Genre lässt sich Schiller nicht festlegen, von Elektropop bis Klassik ist auf den bisher erschienen Alben alles dabei. Eines haben alle Produktionen gemeinsam: Sie sind rhythmisch und tanzbar, regen mit ihren Klangteppichen die Fantasie an und laden zum Träumen ein.
Schiller live in Bielefeld
Mittwoch, 20. November, 20 Uhr, Lokschuppen, Bielefeld;
Karten (48 Euro): NW und hier.