Streaming-Futter

“Grey’s Anatomy Staffel 17” oder warum mehr Serien Corona zeigen sollten

Wie soll die Covid-Pandemie in Film und Fernsehen dargestellt werden? Die langlebige Arztserie hat nicht alle Antworten, regt aber zum Nachdenken an.

Doktor Bailey (Chandra Wilson, r.) wacht über die durch Corona komatöse Doktor Grey (Ellen Pompeo). | © picture alliance

Jan-Henrik Gerdener
12.10.2021 | 12.10.2021, 19:36

April 2020. Knapp eine Minute nach Beginn der aktuellsten Staffel „Grey‘s Anatomy" füllen diese Worte den gesamten Bildschirm. Sofort werden wir als Zuschauer in den nun apokalyptischen Klinik-Alltag am Grey-Sloan-Memorial-Hospital geworfen. Die Klinik ist mit Corona-Fällen überlaufen, die Ärzte sind erschöpft und die Patienten sterben wie die Fliegen. Oder sterben zumindest noch häufiger, als sie es bei „Grey‘s Anatomy" eh schon tun. Die Serie so in die Realität zu holen ist der größte Stilbruch in ihrer 17-jährigen Geschichte. Und nach der Staffel stellt sich einem die Frage: Warum machen das nicht eigentlich auch andere Serien?

Die Corona-Pandemie hat die TV- und Film-Industrie vor so noch nie dagewesene Herausforderungen gestellt. Nicht nur weil 2020 so viele Filme verschoben wurden und das Kinogeschäft noch lange nicht wieder so läuft wie vor der Pandemie. Die viel größere Frage lautet: Sollen Filme und Serien die Pandemie überhaupt darstellen?

Der Großteil der Industrie sagt dazu bisher: „Auf keinen Fall!" Viele der Produktionen aus der Pandemie halten sich zwar beim Dreh an diverse Vorsichtsmaßnahmen, erkennen die Existenz einer globalen Krisemit über fünf Millionen Todesopfern aber im fertigen Produkt nicht an. Die zweite Staffel von Emmy-Gewinner „Ted Lasso" wurde während der Pandemie gedreht, spielt sich aber in einer zeitlosen Parallelwelt ab, in der niemand eine Maske tragen muss. Beim diesjährigen Horror-Hit „Old" lässt es sich zwar erahnen, dass er 2020 gedreht wurde. Schließlich spielt fast der gesamte Film an einem Strand, also an der frischen Luft, und die Schauspieler haben häufig Abstand zueinander. Aber den Virus gibt es auch in diesem Film nicht. Ausnahmen bilden bisher nur eine Reihe von Low-Budget-Horrorfilmen oder romantische Komödien über den Lockdown, die aber nur sehr wenig Zuschauer finden. Deutsche Serien wie „Drinnen" oder „Schlafschafe" sind dagegen auf ZDF-Neo versteckt.

Masken in einer Serie fühlen sich noch immer seltsam an

Das macht es so surreal, wenn die Figuren in „Grey‘s Anatomy" auf einmal Masken tragen und sich ständig desinfizieren müssen. Wir sind es einfach nicht gewohnt, diesen Teil unseres Alltags auf einmal auch in der Glotze zu sehen. Es fühlt sich gerade für die ersten Folgen der Staffel durchgehend seltsam an, dass sich die Ärzte des Grey-Sloan-Memorial auf einmal mit echten Problemen wie Maskenknappheit und Coronaleugnern rumschlagen müssen.

Der Serie tut das aber tatsächlich ziemlich gut. Die Pandemie gibt Showrunnerin Krista Vernoff tatsächlich etwas Neues zu erzählen, nachdem sich die Show in den letzten Jahren mit den immer wieder gleichen Liebes-Dreiecken (oder zum Teil auch Vier- oder Fünfecken) in die Ecke geschrieben hatte. Dank Corona geht es tatsächlich wieder um was. Vor allem weil die Show den mutigen Schritt geht, Hauptfigur Meredith Grey (Ellen Pompeo) an Corona erkranken zu lassen. Für einen Großteil der Staffel liegt sie auf der Intensivstation und stirbt langsam an den Folgen des Viruses.

Der Moment, in dem Meredith sich infiziert und auf dem Parkplatz des Krankenhauses zusammenbricht, wäre bei vielen anderen Serien wahrscheinlich der Moment gewesen, wo die Produzenten eingeschritten wären. Das ist zu düster. Das verschreckt die Zuschauer. Die Menschen wollen im Moment vor allem Eskapismus. Das dürften in Studios derzeit die häufigsten Gründe dagegen sein, die Corona-Pandemie authentisch darzustellen. Aber in „Grey‘s Anatomy" ging es schon immer darum, die attraktiven Hauptdarsteller und ihre Patienten leiden zu lassen. Immerhin hat Meredith Grey schon mehrere Flugzeugabstürze, einen Amoklauf und ein Erdbeben überlebt, hatte eine Fehlgeburt, ist ertrunken und war kurz klinisch tot, und sie hat schon folgende Menschen zu Grabe getragen: ihren Ehemann, ihre Mutter, ihren Vater und ihre Schwester. Hätten es keine tödliche Pandemie gegeben, hätten die Showrunner auf kurz oder lang wahrscheinlich selbst eine erfunden.

Die Impfung wird in der Serie durch fröhliche Popmusik untermalt

Die Darstellung von Corona in der aktuellen Staffel ist aber tatsächlich weitestgehend gelungen. Die Erschöpfung des Medizinpersonals, das Warten auf einen Impfstoff, die monotone Hoffnungslosigkeit – all das wird gut eingefangen. Wobei die Macher manchmal mit ihrem Aufklärungsauftrag etwas über das Ziel hinausschießen. Ja, Corona trifft sozial-schwache Gruppen und Minderheiten härter als Weiße, vor allem in den USA. Aber es dürfte einen besseren Weg geben, das darzustellen, als in jeder Folge einen 5-minütigen Monolog darüber zu halten. Andererseits bleibt vielleicht gerade das dann bei Zuschauern hängen.

Der größte Verdienst der Staffel ist es wahrscheinlich wirklich, die Ausnahmesituation durch die Corona-Pandemie für Zuschauer leicht verständlich im Hauptprogramm zu zeigen. An Maskenregeln erinnert zu werden, kann nervig sein. Aber wenn die Ärzte ihre Masken aufsetzen, weil sie sich auf den Weg zu einer großen OP machen, kann das als cineastischer Moment sogar cool sein. Über die Vorteile von Impfungen zu dozieren kann trocken sein. Am Ende der Staffel gibt es eine Montage, in der die Hauptcharaktere nach 16 Folgen Leid und Ansteckungsgefahr endlich ihre Impfung kriegen, unterlegt mit fröhlicher Popmusik. Was bleibt Zuschauern, die sich noch nicht für eine Impfung entschieden haben, wohl eher im Gedächtnis?

Hätten wir mehr darüber geredet, wie wir Leute retten können?

Es ist natürlich verständlich, wenn Serien und Filme diesen Weg nicht gehen. Schließlich müssen James Bond und Captain America nicht auch noch darauf achten, dass der Mindestabstand eingehalten wird. Aber dadurch, dass „Greys‘s Anatomy" in der Unterhaltungswelt eher die Ausnahme darstellt, wurde die Pandemie dort so gut wie komplett verbannt. Es wird sicher nicht der einzige Grund sein, aber auch das wird seinen Teil dazu beitragen, dass sich Corona für Nicht-Betroffene nicht „echt" anfühlt. Die Bedrohung ist schließlich abstrakt, und wenn Hollywood und Co. so weitermachen, wie bisher, bleibt sie das auch. So fragt man sich bei der aktuellen Staffel „Greys Anatomy" zuweilen: Hätten wir vielleicht mehr darüber gesprochen, wie viele Leben wir retten können, statt wann die Geschäfte endlich wieder aufmachen, wenn Corona auch in unserer Unterhaltung eine Rolle spielen würde?

Natürlich liefert "Grey's Anatomy" nicht die ultimative Antwort darauf. Die Serie schafft es auch nicht, alle Eindrücke der Pandemie einzufangen. Coronaleugner tauchen zum Beispiel in nur einer Folge auf. Aber die Serie stellt die Pandemie überhaupt dar, und schon das macht die Staffel zu einer interessanten Zeitkapsel.