"Die meisten, die 'Lügenpresse' rufen, meinen Vermischung von Nachricht und Meinung"

Herr Haller, ist das lange Zeit geltende Ideal eines &bdquo;neutralen Journalismus" überholt?Michael Haller: Grundsätzlich gesagt: nein. Allerdings muss man klären, was damit gemeint ist. Völlige Neutralität kann es unter Menschen ja nicht geben. Das Ideal betrifft die Unabhängigkeit der Journalisten: Erstens die äußere Unabhängigkeit, zum Beispiel von Werbekunden, Geldgebern, Prominenten, Politikern. Zweitens die innere Unabhängigkeit. Die ist schwieriger. Sie beginnt mit der Trennung zwischen den Marktinteressen des Medieneigentümers und den Interessen der Redaktion. Und sie endet beim einzelnen Journalisten, der sich von seinen Vorurteilen und Vorlieben soweit möglich freimachen, diese zumindest reflektieren sollte. In diesem Sinne ist das Ideal keineswegs überholt, sondern wichtiger denn je. Zeigt die Kontroverse um eine polizeikritische Kolumne in der taz nicht, dass etwas grundsätzlich in Bewegung ist? Steuert der Journalismus auf eine neue Parteilichkeit zu?Haller: Das Problem sehe ich darin, dass in vielen Medien die Darstellungsformen und damit die Medienfunktionen durcheinandergeraten sind. Wie meinen Sie das?Haller: Viele Journalisten publizieren schon eine Meinung, noch ehe sie genau informiert sind. Erhebungen zeigen indessen, dass sich das Publikum in erster Linie über das aktuelle Geschehen in der Welt informieren möchte. Und zwar so zutreffend und unvoreingenommen wie möglich. Dieser Anspruch verlangt von den Newsmedien, dass sie die Trennung zwischen Nachricht und Meinung wirklich ernst nehmen. Leider aber sehen wir hier die Tendenz, Nachricht und Meinung zu vermischen. Viele Redaktionen meinen, sie dürften einseitig berichten oder ihren Berichten einen Drall, einen Spin geben. Man erkennt das schon an den Überschriften sogar bei seriösen Qualitätsmedien. Befragungen zeigen, dass die meisten Leute, die &bdquo;Lügenpresse" rufen, nicht &bdquo;Lüge", sondern diese Vermischung meinen. Im Spiegel argumentierte ein Redakteur, Neutralitätsjournalismus sei &bdquo;uninteressant und unaufrichtig" und versage in Zeiten von Fake-News und Verschwörungstheorien in seiner Rolle als vierte Gewalt. Medien und Journalisten müssten stärker Farbe bekennen. Hielten Sie das für ein taugliches Mittel?Haller: Ich denke, das ist wieder so ein Schrägschnatterer, der mit seiner These um Aufmerksamkeit buhlt. Freilich darf man in einem Kommentar auch schräge Ansichten zur Diskussion stellen, da ist nichts Verwerfliches dran. Die Leser sollten sich aber nicht beeindrucken lassen, sondern diese Ansicht als das nehmen, was sie ist: die bizarre Meinung eines Individuums. Wird ein &bdquo;neutraler Journalismus" unserer gesellschaftlichen und politischen Gegenwart noch gerecht oder brauchen wir einen anderen Journalismus?Haller: Ich glaube schon, dass wir einen erneuerten Journalismus brauchen, jedoch in anderer Hinsicht. Wir brauchen keine identitären Geschichten und darum auch keine Journalisten, die über sich selbst schreiben. Ich beziehe mich auf Studien und Erhebungen über das, was die Bevölkerung benötigt und wünscht. Von daher brauchen wir einen Journalismus, der den Informationsauftrag wieder ernst nimmt, der akribisch recherchieren und Missstände aufdecken kann. Und der die Vorgänge aus der Sicht der Bevölkerung und der Betroffenen wahrnehmen kann – statt den Eliten nach dem Mund zu schreiben. Wichtig ist auch, dass er seine Arbeitsweise erklärt, also transparent macht und Auskünfte gibt, etwa: Warum haben wir mit dem geredet und nicht mit jenem, welche Fragen blieben offen, was war das leitende Interesse unserer Recherche – und so weiter. Sind die gegenwärtigen Debatten auch Ausdruck eines Generationskonflikts im Journalismus?Haller: Ich sehe da eher kulturelle und politische Konflikte. Die Kontroversen ergeben sich daraus, dass verschiedene Trends über- und gegeneinander laufen. Nehmen Sie als Beispiel die Plattformmedien. Einerseits erlauben sie es, dass jeder seine Meinung öffentlich machen kann. Andererseits sind sie so programmiert, dass man vor allem solche Meinungen findet, die das eigene Denken, die eigenen Vorurteile bestärken. Solche Echokammern funktionieren entgegengesetzt zur Idee der Meinungsvielfalt im Online-Diskurs. Wie leicht sich Menschen von vermeintlich plausiblem Unsinn verführen lassen, wenn sie verängstigt sind, zeigt die Corona-Krise mit all den Verschwörungsgläubigen.Haller: Ja – und solche Trends werden dadurch verstärkt, dass viele Menschen den Institutionen, also dem Staat, den Behörden und auch den Leitmedien misstrauen, Motto: Die lügen doch alle. Darum ist es so wichtig, dass die Journalisten die Beobachterperspektive und ihre Wahrhaftigkeitsverpflichtung wieder ernst nehmen. Eine Demokratie ist auf echten öffentlichen Meinungsaustausch angewiesen. Ein Publikum, das im Medium seiner Wahl hauptsächlich die eigenen Überzeugungen gespiegelt bekommt, und Journalisten, die Partei sind, würden dem eklatant widersprechen. Für wie wahrscheinlich halten sie ein solches Szenario?Haller: In den analogen Zeiten gab es eine klare Aufgabenteilung, jedenfalls dem Anspruch nach: Die öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen sollten möglichst neutral – also aus unabhängiger Sicht – über alles Wichtige des Tages berichten. Und die privatwirtschaftlich produzierten Zeitungen konnten ihre &bdquo;publizistische Linie" verfolgen. Sie durften einseitig, sollten aber nicht falsch berichten. Dieses Bild hat sich in den vergangenen rund drei Jahrzehnten stark verändert. Die ZDF- und die ARD-Sendungen vermitteln heute meist die Sicht der politischen Elite in Berlin. Man kann sagen: Die Journalisten denken etwa so wie die grünrotschwarze GroKo, auch wenn die Partei der Grünen nicht in der Regierung sitzt. Wir konstatieren hier einen generellen Distanzverlust. Wie reagieren die Zuschauer und Leser?Haller: Im Unterschied zu früher wollen heute sehr viele Menschen mitreden und sich aktiv einbringen. Das wurde damals mit &bdquo;Stuttgart 2020" erstmals offenkundig. Seither singen wir das schöne Lied von der Zivilgesellschaft – nur der Journalismus kennt diese Melodie noch nicht. Er sollte dringend die Rolle des Moderators lernen, der das öffentliche Gespräch dieser Gesellschaft in Gang hält und dafür sorgt, dass auch kritische, abweichende Meinungen zu Wort kommen. Seit der Flüchtlingskrise wissen wir ja, was passiert, wenn die Medien die Andersdenkenden ins &bdquo;Dunkeldeutschland" aussiedeln. Sie sind Mitherausgeber eines gerade erschienenen Buchs, das &bdquo;Sternstunden des Journalismus" seit der Aufklärung nacherzählt. Inwieweit können diese Richtschnur für die Zukunft sein?Haller: Wir sehen im Rückblick, welche ungeheuren Anstrengungen und Opfer nötig waren, um Redefreiheit, Meinungsäußerungsfreiheit und offenen Informationszugang durchzusetzen: die Grundpfeiler der Demokratie! Gerade viele junge Menschen heute halten das alles für selbstverständlich. Sie täuschen sich. Nicht nur der Staat, auch global agierende Medienkonzerne versuchen immer wieder, diese Freiheiten einzuschränken oder zu manipulieren. Der Kampf für die Meinungs- und Pressefreiheit wird nie aufhören.

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